Einblicke in eines der ältesten Therapiesysteme Indiens, das im Westen bislang wenig bekannt ist.
Ayurveda ist weithin bekannt. Er erfreut sich mittlerweile auch außerhalb Indiens zunehmender Beliebtheit und gilt als die indische Medizin. Dass Indien jedoch noch über weitere Heilkünste verfügt, ist weniger bekannt. Gerade die geheimnisumwobene Siddha-Medizin, die oft als eines der ältesten Therapiesysteme der Welt bezeichnet wird, ist nur wenigen ein Begriff.
Die indische Medizinlandschaft prägt vor allem eines: ihre Vielfalt. So zählen zu den traditionellen Medizinsysteme in Indien neben Ayurveda auch Unani und eben die Siddha-Medizin. Als Ethnologe erkunde ich diese seit 2008 mit der Unterstützung von Siddha-Heilern und Ärzten in Südindien.
Die Anfänge der Siddha-Medizin
Die Siddha-Medizin geht auf eine Gruppe von Yogis zurück, die Siddhars. Sie lebten vorrangig zwischen dem 8. und dem 17. Jahrhundert in Teilen Südindiens, vor allem im heutigen Tamil Nadu. Es besteht indes die Annahme, dass die Siddhars bereits vor vielen Jahrtausenden wirkten und dass die Siddha-Medizin eine der ältesten Heiltraditionen der Welt ist.
Der Begriff Siddhar bedeutet „Vollendeter“. Auf ihrer Suche nach Vollendung sollen die Siddhars übermenschliche Kräfte, Siddhis, erlangt haben. Diese ermöglichten es ihnen, ihre Körper beliebig zu verändern, oder verliehen ihm beispielsweise telepathische Fähigkeiten. Doch ihr ultimatives Ziel war ein anderes. Sie strebten danach, dem immerwährenden Zyklus des Seins und der Wiedergeburten, dem Samsara, durch das Erlangen von Unsterblichkeit zu entkommen. Faszinierende Mythen ranken sich um diese Siddhars. In jeder Hinsicht waren sie unorthodoxe Persönlichkeiten. Wie auch die Sadhus lebten sie oft fernab aller Zivilisation in Höhlen. Sie lehnten konventionelle Lebensformen ab, auch die Anbetung von Göttern in Tempeln oder in Form von Statuen. Schließlich hatten sie erkannt, dass das Göttliche ihnen selbst innewohnt. Durch diese Erkenntnis und das nachfolgende Einswerden mit Gott Shiva – dadurch, selbst zu Shiva zu werden – suchten die Siddhars Unsterblichkeit zu erlangen.
Die Schriften der Siddhars zeugen von ihren vielfältigen Experimenten, Körper und Geist zu vollenden. Ihre yogischen Techniken, tantrischen Praktiken und alchemistischen Elixiere zielen darauf ab, das Leben zu verlängern, um eine Vereinigung mit dem Göttlichen im Jetzt und Hier zu erreichen. Für manche Siddhars lag der Schlüssel hierzu in ritueller sexueller Vereinigung, für andere in der Transformation von Körper und Geist durch Pranayama, Meditation und Asanas. Viele suchten ihr Leben […]