Vom ersten Yogalehrer und darüber, wie die nach ihm benannte Haltung deine Sicht auf die Welt verändern kann
Manche Legenden wurden in Indien über viele Generationen hinweg ausschließlich mündlich weitergetragen. Mit jeder Weitergabe gewannen sie eine neue Farbe, so dass teilweise verschiedene Versionen derselben Legende zugleich erzählt wurden. Eine solche Legende rankt sich um die Ursprünge des Hatha-Yoga. Ich möchte sie mit dir teilen:
Einst hatte Gott Śiva genug von den Menschen. Ständig erbrachte irgendwo jemand ein Ritual, um seine Unterstützung für das eine oder andere ganz menschliche Vorhaben zu gewinnen. Dabei widersprachen sich die Vorhaben der Menschen allzu oft. Śiva wusste bald nicht mehr, wem er jetzt helfen sollte. Mit einem Wort, er war kurz vor dem Burn-out und ganz sicher reif für einen guten und ruhigen Urlaub! Damit ihn auch wirklich niemand stören konnte, wählte Śiva eine einsame Insel als Reiseziel. Kaum angekommen widmete er sich ganz dem, was er am liebsten tat – der Praxis des Yoga. Meditativ versunken bewegte er sich von Position zu Position. In stetem Fluss führte er alle Haltungen aus, die er kannte, und erfuhr so die Essenz der Lebendigkeit in allen Facetten. Doch was Śiva nicht wusste: Er war auf seiner einsamen Insel doch nicht ganz alleine. Im Wasser beobachtete ihn ein Fisch – und der Fisch war fasziniert von dem, was der Gott da tat und folgte ihm in der Praxis. Alle Positionen, die Śiva an Land ausführte, nahm auch der Fisch ein. Und wie der Gott erfuhr auch der Fisch mit jeder Position eine neue Facette der Lebendigkeit. So tief, dass er in jeder Position die Erfahrungen eines ganzen Lebens sammelte und sie als ein anderer wieder verließ. So durchlief der Fisch in seiner Yogapraxis die Evolution.
Als Śiva schließlich die Versenkung seiner Yogapraxis verließ, war aus dem Fisch ein Mensch geworden. Um in Zukunft nicht mehr allzu oft von den Menschen um Hilfe angefleht zu werden, ernannte Śiva Matsyendra, den König der Fische, kurzerhand zum ersten Yogalehrer.
Vielen der alten Haṭha-Yoga-Texte beginnen mit einem Dank an die Lehrer. Die Kette, über die der Yoga weitergetragen wurde, Guru-Paramparā, startet oft bei jenem mythologischen „Matsyendra“. So auch in der Haṭha-Yoga-Pradīpikā von Svātmārāma:
haṭha-vidyaṁ hi matsyendra-gorakśādyā vijānte |
svātmārāmo-‚thavā yogī jānīte […]