Wir sind von Fülle umgeben und in Fülle geborgen – allerdings nehmen wir stattdessen oft nur Mangel wahr. Wie du ein Bewusstsein dafür entwickelst, dass eigentlich alles da ist.
Der Purnamadah-Vers ist ein Mantra aus der Isha-Upanishad. Die Upanishaden sind metaphysisch und philosophisch orientierte Texte und erläutern den mantrischen Hauptkorpus der Veden, die Samhitas.
Die upanishadischen Texte sind relevant für den Yoga, weil hier wichtige und spirituelle Grundkonzepte des inneren Weges zur Befreiung beschrieben werden. Die Isha-Upanishad ist kurz: In nur achtzehn Versen wird eine der fundamentalen Ideen der indischen Spiritualität beschrieben und im Purnamadah-Mantra poetisch und fast schon paradox ausgedrückt:
Die grundlegende Realität ist Fülle, und diese ist – als Essenz – immer da, auch wenn wir sie selten wahrnehmen. Oder anders ausgedrückt: Die Fülle, das Höchste, das Vollständige, das Soma, ist sowohl immanent (im Herzen eines jeden Wesens) als auch transzendent (im Formlosen, jenseits des Manifesten, als das Absolute).
Sie ist diesseits, im Hier und jetzt, wie auch jenseits. Fülle ist überall! Und man kann ihr nichts nehmen.
Das Mantra ist eine Erinnerung daran, dass alles immer und jederzeit vollständig und ganz ist. Diese Ganzheit und Fülle von Moment zu Moment zu erfahren, ist eines der Ziele des Yoga. Das könnte man auch als eine schöne Definition von Yoga verstehen: Yoga ist der Zustand, in dem nichts fehlt.
Fülle und Mangel
Leider erfahren wir aber oft das Gegenteil, nämlich Mangel. Oft haben wir dieses Mangelgefühl tief in uns. Wir glauben, wir seien unvollständig, nicht gut genug, oder irgendetwas an uns sei „falsch“. Irgendetwas scheint zu fehlen. Da ist ein nagendes Gefühl der existenziellen Leere, die wir, so gut es geht, zu stopfen versuchen.
Wir haben sogar eine ganze Zivilisation und ein ganzes Wirtschaftssystem auf der Kultivierung des Mangels aufgebaut – und auf das Versprechen, den Mangel durch Konsum beheben zu können: durch das nächste Produkt, den nächsten (Online-)Workshop, die nächste Beförderung, die nächste Yogastunde, das nächste magische Mantra, das Ende des Lockdowns, noch mehr Wissen, mehr Geld, ein gemeinsames Kind, den nächsten (Seelen-)Partner … Wir glauben: „Dann bin ich glücklich, erfüllt, und alles ist gut.“ Wir suchen in anderen Menschen, Objekten und Zuständen nach Erfüllung und Vollständigkeit, in der Hoffnung, dass unser eigenes Mangelgefühl dadurch beendet […]