Über die heilende Wirkung der Resonanzatmung und den Einfluss des Vagusnervs auf unsere Gesundheit.
Ein Großteil der Anziehungskraft des Yoga beruht auf der inneren Ruhe und dem Frieden, die er uns gibt – ein Gefühl, das viele nach ihrer ersten Yogastunde empfinden. Es scheint fast ein universelles Gesetz zu sein, dass Yoga wirkt. Damit diese Wirkung eintritt, spielt es fast keine Rolle, welche Art von Yoga wir praktizieren. Interessanterweise ergab eine systematische Auswertung von über 50 Yogastilen, die im Jahr 2016 durchgeführt wurde, dass unterschiedliche Yogastile nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führten: Yoga hat einen positiven Einfluss und unterstützt Menschen bei vielen Problemen, von körperlichen bis hin zu mentalen und emotionalen Bedürfnissen. Unabhängig von der Art des Yoga, die du praktizierst, stehen die Chancen gut, dass du dich dadurch beruhigt, weniger gestresst, flexibler, etwas stärker, konzentrierter, weniger reaktiv und innerlich mit einer tieferen Ebene des Seins verbunden fühlst. Vermutlich ist Yoga in seiner Fähigkeit zu heilen deshalb so universell, weil er in erster Linie durch den Fokus auf die bewusste Atmung, die praktisch alle Yogamethoden begleitet, direkten Einfluss auf die Aktivität unseres Nervensystems nimmt.
Ein bewusster Atemzug
Sobald wir einen bewussten Atemzug nehmen, verändert sich etwas in uns. Der Zuständigkeitsbereich für unsere Atemkontrolle verlagert sich vom Hirnstamm, in dem die Funktionen des autonomen Nervensystem verarbeitet werden, hin zum präfrontalen Cortex, in dem bewusste Entscheidungsfunktionen ablaufen. Diese Ortsveränderung hat einen tiefgreifenden Effekt, den wir in unserem gesamten Wesen spüren. Ein bewusster Atemzug versetzt uns sprichwörtlich zurück in den Fahrersitz. In der wissenschaftlichen Terminologie werden Aktivitäten, die den Hirnstamm betreffen und Änderungen nach oben in die höheren Zentren des Gehirns senden, Bottom-up-Prozesse genannt, während Aktivitäten, die die höheren Zentren wie den präfrontalen Cortex betreffen und Signale nach unten zum Hirnstamm senden, Top-down-Prozesse heißen. Aktivitäten, die als bottom-up eingestuft werden, verändern unser Atemmuster oder unsere Asana-Praxis. Zu den Top-down-Prozessen hingegen gehören die Meditation oder das Üben von Dankbarkeit und Wertschätzung. Die Wirksamkeit von Yoga könnte an der einzigartigen Mischung von Bottom-up- und Top-down-Praktiken liegen, die in einer kohärenten Funktion des gesamten Gehirns oder einer vollständigen Einbindung von Körper, Atem und Geist resultiert. Diese Integration lässt uns ein unbeschreibliches Gefühl des Seins, Bewusstseins und der Offenheit spüren – etwas, das den Charakter fast aller spirituellen Praktiken beschreibt, die Körper und Atem als Tore zu höheren Bewusstseinsebenen nutzen. Schauen wir uns die Mechanismen an, die zu diesem Zustand beitragen.
Ein komplementäres System
Viele davon nehmen ihren Anfang im autonomen Nervensystem (ANS). Es reguliert die Herzfrequenz, den Blutdruck, die Körpertemperatur, Verdauung, sexuelle Erregung, Atemfrequenz und Ausscheidungsprozesse. All das sind lebenswichtige Funktionen, weshalb sie auch als Überlebensfunktionen bezeichnet werden. Sie funktionieren unser gesamtes Leben lang, und zwar anhand überaus komplexer und untereinander verwobener Mechanismen, die wir bis heute nicht vollkommen verstehen. Das ANS gliedert sich in zwei Zweige: in das sympathische und das parasympathische Nervensystem. Dabei handelt es sich um komplementäre Zweige, die all unsere Organe anregen. Das sympathische Nervensystem lässt uns Aktivität erfahren und wird im hyperaktivierten Zustand auch „Kampf oder Flucht“-Modus genannt – ein Zustand, der ausgelöst wird, wenn wir eine Bedrohung wahrnehmen. Das parasympathische Nervensystem bestimmt über Ruheprozesse, Verdauung, Entspannung, Erneuerung und Wiederherstellung. Wir bewegen uns laufend, wirklich jede Sekunde des Tages, zwischen Expansion und Kontraktion, Ruhe und Aktivität, Einatmung und Ausatmung. Die beiden Zweige arbeiten eng zusammen, um ein Gleichgewicht herzustellen und um angemessen auf körperliche wie auch auf Umweltanforderungen reagieren zu können.
Der Vagusnerv
Rund 80 Prozent des parasympathischen Nervensystems sind zu einem großen Nervenbündel zusammengefasst, das als Vagusnerv bezeichnet wird. Der Vagus ist der zehnte unserer zwölf Hirnnerven. Er besteht aus einer faszinierenden Gruppe von Nerven und unterscheidet
sich von den anderen Hirnnerven aufgrund seiner großen Reichweite. Elf der zwölf Hirnnerven versorgen das Gesicht, den Nacken und die Sinnesorgane, der Vagus wandert jedoch über den Kopf hinaus nach unten zu vielen verschiedenen Anknüpfungspunkten. Das Wort vagus stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „umherschweifend, wandernd“, wie in „Vagabund“. Ausgehend von knapp oberhalb des Hirnstamms wandert der Vagus durch die Luftröhre, den Kehlkopf, das Herz, die Lungen, das Zwerchfell, den Magen, die Leber, die Bauchspeicheldrüse und den Darm nach unten. Er besteht zu 80 Prozent aus sensorischen Nerven, 20 Prozent machen motorische Nerven aus. Die sensorischen Nerven senden Informationen vom Körper an das Gehirn, während die motorischen Nerven Nachrichten an den Körper senden, um ihm Handlungsanweisungen zu geben. Oberhalb des Nackens kommuniziert der Vagus mit den Nuclei in den Ohren und den Mund- und Augenwinkeln. Charles Darwin war der Erste, der den Vagus als Nerv der Emotionen identifizierte. Er vermutete, dass der Vagus das Herz und den Kopf verbinde und somit die im Herzen empfundenen Emotionen dem Gehirn übermittle. Die Verständigung zwischen dem Vagus und den Gesichtsmuskeln macht etwa Gesichtsausdrücke möglich, mit denen Emotionen preisgegeben werden können, während die Anregung des Vagus in Kehlkopfnähe für den sprachlichen Ausdruck von Emotionen sorgt. Tatsächlich sind wir erst durch Stimme, Mimik und Körpersprache in der Lage, den emotionalen Zustand von anderen zu erahnen, und ebenso drücken wir unsere eigenen Emotionen darüber aus. Dr. Stephen Porges, der Wissenschaftler, der die Polyvagaltheorie aufgestellt hat, stellte fest, dass wir uns vor allem mit Hilfe des Vagusnervs überhaupt erst gegenseitig „lesen“ können, indem wir emotionale und soziale Signale deuten.
Mit einem guten vagalen Tonus können wir Emotionen besser lesen und ausdrücken; bei einem weniger guten vagalen Tonus missverstehen wir Gesichtsausdrücke, sprachliche Signale und die Körpersprache. Wir nehmen Bedrohung wahr, wo möglicherweise gar keine ist.
Ein guter vagaler Tonus bedeutet, dass die Informationen gut fließen können. Anders als beim Muskeltonus, handelt es sich hierbei mehr um einen „Verkehrsfluss“. Ein starker vagaler Tonus deutet auf eine gute kardiovaskuläre Gesundheit, geringere Entzündungswerte und eine höhere Resilienz hin, ein schwacher vagaler Tonus hingegen auf das Gegenteil. Der Tonus des Vagusnervs wird an der Herzfrequenzvariabilität (HRV) gemessen, also an Veränderungen zwischen den Herzschlägen. Herzfrequenz und HRV sind zwei unterschiedliche Messmethoden. Die Herzfrequenz gibt an, wie oft unser Herz pro Minute schlägt. Die gesunde Ruhefrequenz bei einem Erwachsenen liegt zum Beispiel bei 65–72 Schlägen pro Minute, wobei diese Zahl den Gesamtdurchschnitt aller Herzschläge im Zeitraum von einer Minute meint. Der Abstand zwischen den einzelnen Herzschlägen ist jedoch nicht gleichmäßig wie etwa bei einem Metronom. Wenn du einatmest, wird deine Herzfrequenz ein bisschen schneller, wenn du ausatmest, wird sie etwas langsamer. Auch in der Ruhephase verändert sich also die Geschwindigkeit von einem Herzschlag zum nächsten – einmal ist sie etwas langsamer, dann wieder etwas schneller, so dass der Durchschnitt schließlich bei 65–72 liegt. Dieser Durchschnitt ist deine Herzfrequenz, die Geschwindigkeitsveränderungen bilden deine HRV. Solche Veränderungen sind gut. Die Natur schätzt Variation und mag ein klein wenig Chaos. Wenn die Dinge vollkommen gleich sind und es keine Veränderungen gibt, ist das normalerweise kein gutes Zeichen (ein Beispiel dafür wäre etwa der Herzstillstand – definitiv nichts Gutes, wenn man leben möchte). Eine hohe HRV ist daher also wünschenswert, eine niedrige hingegen nicht so sehr. Zu den Faktoren, die zu einer hohen HRV beitragen, gehören unter anderem soziale Interaktionen, regelmäßige Bewegung, Atemübungen, Meditation, eine gute Ernährung, ausreichend Schlaf und die Praxis von Dankbarkeit und Wertschätzung.
Wie Yoga wirkt
Wenn du Yoga praktizierst oder einen anderen ganzheitlichen oder spirituell orientierten Lebensstil pflegst, dann wird dir diese Liste sofort bekannt vorkommen, denn all diese Praktiken machen einen yogischen Lebensstil aus: Asana, Pranayama, Meditation, die Yamas und Niyamas (nach bestem Wissen und Gewissen) und regelmäßige Schlaf- und Essgewohnheiten. Könnte es sein, dass die Yogis wussten, dass diese grundlegenden Lebensgewohnheiten einen direkten Einfluss auf den Vagusnerv und auf das parasympathische Nervensystem haben? Ich denke, es ist gut möglich, dass sie es wussten, denn in den yogischen Texten wird immer wieder betont, dass Asana, Pranayama, Meditation und ein sattvischer Lebensstil das Nervensystem reinigen. Wenn das Nervensystem gereinigt ist, bereitet es uns gemäß den Yogalehren auf die tieferen Ebenen der Meditation vor.
Dr. Stephen Porges hat vier „Zutaten“ identifiziert, die alle spirituellen und religiösen Praktiken gemeinsam haben. Er nennt sie „neuronale Übungen“:
- Haltung, wie die Gebetshaltungen im Islam und im Judentum, die Niederwerfungen im Hinduismus und Buddhismus, die kreisenden Tänze der Sufis, das Sitzen und Stehen im Christentum und Asanas im Yoga.
- Atmung, wie reguliertes Atmen und Pranayama-Übungen.
- Vokalisierung, Gesang und Gebet sowie vokalisierte Atmung.
- Verhaltensregeln, etwa die Zehn Gebote im Christentum, die 631 Mizwot im Judentum, die Dharma-Shastras im Hinduismus, die Yamas und Niyamas im Yoga und die Brahma-Viharas im Buddhismus.
Folgende vier davon beeinflussen direkt den Tonus des Vagusnervs:
- Körperhaltungen stimulieren jene Barorezeptoren (Anm. d. R.: Rezeptoren, die Druckunterschiede wahrnehmen) an der Halsschlagader, die maßgeblich zur Regulation des Blutdrucks beitragen. Schon allein eine aufrechte Sitzhaltung sendet Signale an diese Barorezeptoren und stabilisiert so den Blutdruck.
- Die Atmung stimuliert vagale Afferenzen im Bauchraum, die über den Vagus Signale der Rhythmizität, Ruhe und Sicherheit an das Gehirn senden.
- Die Vokalisierung stimuliert den Vagus in Kehlkopfnähe und massiert die Nerven auf ihrem Weg durch den Hals.
- Verhaltensweisen wie Wertschätzung und Dankbarkeit wurden in Studien von Dr. Richard Gevirtz mit einer Steigerung der HRV in Zusammenhang gebracht, Wut und Angst hingegen verringern die HRV. Bethany Kok und Barbara Frederickson konnten zeigen, dass Metta-Meditationen an Aufwärtsspiralen von Emotionen beteiligt sind, die den vagalen Tonus stärken.
Insgesamt wird klar, dass der Vagusnerv eine wichtige Rolle für unsere physiologische Gesundheit und unser emotionales Wohlbefinden spielt. Eine einfache Möglichkeit, deine Herzfrequenz zu verbessern und den vagalen Tonus zu erhöhen, bietet die sogenannte Resonanzatmung. Dabei handelt es sich um eine sehr einfache Übung, bei der du deine Atemfrequenz von den normalen zwölf bis achtzehn Atemzügen pro Minute auf etwa fünf bis sieben Atemzüge pro Minute verlangsamst. Wenn unsere Atmung für einige Minuten diesem Muster folgt, beginnen das sympathische und das parasympathische Nervensystem damit, sich in Richtung eines Gleichgewichts zu bewegen, was einem Reset für die Homöostase und für unsere Resilienz gleichkommt. Die Frequenzmuster von Atmungssystem, HRV, Blutdruck und Hirnwellen stimmen überein – daher auch der Name „Resonanz“. Buddhistische Mönche und Yogis folgen diesem Atemmuster ganz selbstverständlich, während sie meditieren. Schon 15 bis 20 Minuten täglich in dieser Atemfrequenz können uns in einen meditativen Zustand versetzen, ohne dass wir uns im Meditieren versuchen müssen. Somit eignet sich die Resonanzatmung für Menschen, die von sich behaupten, sie können oder wollen nicht meditieren, obwohl sie das Gefühl haben, dass sie es versuchen sollten.
Die Untersuchungen von Dr. Richard Gevirtz haben gezeigt, dass sich allmählich Veränderungen in der Widerstandsfähigkeit des Nervensystems feststellen lassen, also in der Fähigkeit, sich nach Herausforderungen schneller wieder zu erholen, wenn man diese Übung über einen Zeitraum von fünf Wochen täglich praktiziert. Ich selbst habe es vor einigen Jahren versucht und nach fünf Wochen beachtliche Unterschiede festgestellt, unter anderem konnte ich viel schneller einschlafen. Und auch meine Yogapraxis wurde bereichert. Tatsächlich hat mich diese Übung erst auf die Idee gebracht, The Breathing App zu kreieren. Und noch heute praktiziere ich die Resonante Atmung täglich für etwa zehn Minuten. Probier auch du es aus und schau, ob es bei dir ebenso funktioniert!
Vermutlich ist Yoga in seiner Fähigkeit zu heilen deshalb so universell, weil er in erster Linie durch den Fokus auf die bewusste Atmung, die praktisch alle Yogamethoden begleitet, direkten Einfluss auf die Aktivität unseres Nervensystems nimmt.
Anleitung zur Resonanzatmung:
- Setz dich bequem auf einen Stuhl oder auf den Boden, oder leg dich auf den Rücken.
- Stell eine Uhr mit Sekundenzeiger vor dich hin (oder lad dir The Breathing App runter – sie ist kostenlos).
- Leg die Hände auf den Bauch, wenn sich das gut anfühlt.
- Fang nun an, für 5 bis 6 Sekunden einzuatmen und für 5 bis 6 Sekunden auszuatmen. Verwende den Sekundenzeiger als Referenz.
- Versuch, das Atemverhältnis gleichmäßig zu halten, oder lass die Ausatmung 1–2 Sekunden länger sein als die Einatmung, aber atme nicht länger ein als aus.
- Sollten Gefühle von Angst oder Anspannung auftauchen, pausiere für einige Atemzüge und versuch es dann erneut.
- Vergiss nicht: Es gibt keine „richtige“ Art zu atmen: Lass den Atem natürlich dahin strömen, wohin er möchte; achte nur darauf, sanft und gleichmäßig zu atmen. Wichtig: Du atmest nicht tief, sondern nur leicht verlängert.
- Versuch jeden Tag für 10–15 Minuten auf diese Weise zu atmen, bleib im Anschluss daran für einige Atemzüge still sitzen und nimm die Stille in dich auf.
Weiterlesen:
One Simple Thing: A New Look at the Science of Yoga and How It Can Transform Your Life, North Point Press 2019