Mysterium Schlaf: Warum schlafen wir, und in welchen Zustand tauchen wir Nacht für Nacht ein?
Neugeborene verbringen die meiste Zeit im Schlaf, und im hohen Alter nähern wir uns diesem Verhältnis wieder an. Das Wachbewusstsein, scheint es, ragt wie eine Insel aus dem Nächtlichen heraus, ein Berg, der mit seiner Differenziertheit und Vielfältigkeit beachtlich erscheint und doch vom Versinken immer bedroht ist. Bewusstsein gilt uns zunächst und zumeist identisch mit Wachbewusstsein, womit Selbst- und Weltbewusstsein gemeint sind. Wer unseren Bewusstseinszustand prüfen will, fragt zuerst nach unserem Namen und unserem Aufenthaltsort. Doch wissen wir auch von Träumen, die, mehr oder weniger klar und zusammenhängend, ebenfalls (Traum-)Selbst- und (Traum-)Weltbewusstsein aufweisen. Auch, dass es möglich ist, sich während des Träumens bewusst zu werden, dass man träumt, und dass das Traumgeschehen nicht nur realistisch – mit allen Sinnen – erlebt, sondern auch gesteuert werden kann, ist inzwischen Alltagswissen geworden. Der Träumer kann sich sowohl an frühere Träume erinnern, diese sogar fortsetzen, als auch an sein Wachleben, seine Geschichte.
Weniger bekannt sind Bewusstseinsweisen, von denen der Yoga weiß, und die als Bewusstsein während des Schlafens bezeichnet werden können. Der Schlafende träumt nicht und ist sich seiner Existenz als Schlafender nicht bewusst, ist aber dennoch von einer Seligkeit erfüllt, die mit dem geschichtlichen Ich nicht oder kaum verbunden zu sein scheint und daher absolut genannt werden kann – unbedingtes Bewusstsein, das zugleich als Freiheit erlebt wird. Wir können davon ausgehen, dass der Mensch Nacht für Nacht bewusstlos in diesen Zustand taucht und dann das Bewusstsein dieser Seligkeit und Freiheit bereits mit dem Auftauchen, der Wiederkehr des wachen Ich-Bewusstseins, einhergeht.
Der periodisch wiederkehrende Schlaf ist uns so selbstverständlich, dass wir selten darüber staunen und ins Nachdenken geraten. Immer noch aber gibt es keine hinreichende wissenschaftliche Antwort darauf, warum der Mensch überhaupt schläft und träumt.1 Das Gehirn erhole sich im Schlaf, Eindrücke würden verarbeitet, Gelerntes gefestigt, neuronale Vernetzungen gebildet. Biochemische Prozesse und elektrische Aktivitäten, die uns als Korrelate von Bewusstsein gelten, verändern sich messbar. Bildgebende Verfahren zeigen uns Aktivierungsmuster, erlauben die Zuordnung mentaler Leistungen zu Gehirnarealen. Dass Bewusstsein – Denken, Wollen, Fühlen – mit Hirnaktivitäten einhergeht, steht längst außer Frage. Die Frage aber, was Bewusstsein ist und in welchem Zusammenhang Gehirn und Bewusstsein stehen, ist auch heute immer noch rätselhaft. Mit seinem Konstrukt des Ego-Tunnels und empirischen Untersuchungen zu Wahrnehmung und Bewusstsein trägt der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger2 seit Jahren maßgeblich zur Erhellung dieser Fragen bei. Bewusstseinsweisen, die weniger ich-zentriert sind als das gewöhnliche Alltagsbewusstsein, interessieren ihn dabei ebenso wie die Arten des Traum-Bewusstseins, durch Meditation oder Drogen veränderte Bewusstseinsweisen und die Frage nach Bewusstseinsweisen der Tierwelt. Themen, die nicht nur außerordentlich spannend, sondern auch ethisch bedeutsam sind.
Dass Schlaf im besten Fall Erholung und Erfrischung bedeutet, hat jeder schon erfahren. Die Antike kannte den Heilschlaf, aus dem ein Leidender auf der Schwelle des Heiligtums wie neugeboren erwachte. So wie die Sonne am Ende des Tages verschwindet und die Welt in Dunkelheit versinken lässt, um sie am Morgen wieder in Licht zu tauchen, erneuert uns die nächtliche Rückkehr in den Ursprung, die sich zumeist ohne unser Wissen vollzieht. Werden wir uns aber einmal dieser nahezu leib-, ich- und geschichtslosen Seligkeit und Freiheit bewusst, die reines Bewusstsein ist, gleichen wir dem Gefangenen aus Descartes‘ Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, der, nachdem er „etwa im Traum eine eingebildete Freiheit genoß, nachher zu merken beginnt, dass er schläft“, das Erwachen fürchtet und „bei schmeichlerischen Traumbildern lässig die Augen geschlossen“ hält. Der Morgen für Morgen aus dem Schlaf „neu Geborene“ ist weniger ich-zentriert, begegnet den Anforderungen des Alltags offener und gelassener, weniger belastet von Erfahrungen, Ängsten, Erwartungen, und die einfachen Dinge des Lebens erfüllen ihn mit Sinn, Freude, Dankbarkeit. Er weiß, dass der Horizont des Lebens, der Welt – der Ego-Tunnel – unendlicher Erweiterung, Vertiefung, Intensivierung fähig ist und die Grenzen des Lebens nicht die Grenzen des Bewusstseins sind.
1 Einen fundierten Überblick über den Stand der Schlafforschung gibt Prof. Dr. Matthew Walker in seinem Buch Why we sleep (deutsch von Annika Tschöpe): Das große Buch vom Schlaf
2 Thomas Metzinger (deutsch von Thorsten Schmidt): Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst, 464 S.