Der bekannte tantrische Meister Daniel Odier über Sexualität als geheimnisvolle Kunst, die nicht in Form von bloßen Techniken erlernbar ist
YOGA AKTUELL: In westlichen Ländern ist Tantra oft auf eine sexuelle Praxis reduziert. In Ihren Büchern schreiben Sie, dass es weitaus mehr ist. Können Sie es bitte definieren?
Daniel Odier: Tantra ist ein nichtreligiöser, mystischer Weg. Allerdings hat es nichts mit dem zu tun hat, was die meisten Menschen im Westen sich normalerweise darunter vorstellen. Die Basis stellt das Vijnanabhairava-Tantra dar, der älteste Yogatext, in dem 130 Praktiken erwähnt werden, von denen sich aber nur drei mit Sexualität befassen. Die anderen handeln von Bewusstsein. Beim shivaitischen Tantrismus, in dessen Tradition ich stehe, handelt es sich um einen mystischen Pfad, der den Menschen die uneingeschränkte Freiheit anbietet. Deshalb nimmt er in der Geschichte des Denkens eine außergewöhnliche Stellung ein, weil es keine Dogmen, keine herkömmliche Religiosität und keine moralischen Vorschriften gibt. Tantra hat nichts mit irgendwelchen Glaubenssystemen zu tun, sondern ist absolut kreativ und spontan. Tantra ist auch ein schwieriger Weg, die nichts mit zeitgenössischem spirituellen Materialismus zu tun hat. Man sollte vorher den spirituellen Weg gegangen sein und Erfahrungen der Einheit gemacht haben, bevor man sich Gedanken über die sexuelle Praxis macht. Die entsprechenden Praktiken dazu sind im Westen auch vollkommen unbekannt, so dass nicht jeder sie einfach ausprobieren kann.
Wie kann Tantra mir helfen, in Kontakt mit meinem Körper, meinem Geist und der Gegenwart zu kommen?
Wir üben verschiedene Yogatechniken, durch welche die gesamte Wahrnehmung von Körper, Geist und Emotionen erweitert wird und wir einen größeren Raum erfahren. Dazu gehört ein Tanz namens Tandava. Er ist sehr langsam und fließend. Außerdem haben wir verschiedene Yogatechniken, die uns mit unseren Emotionen in Kontakt bringen. Diese sind ebenfalls einzigartig, weil die Möglichkeit entsteht, in den Fluss der Emotionen einzutauchen. Darüber hinaus arbeiten wir mit Visualisierungen von Matsyendranath, durch die es möglich wird, sich für die verschiedenen Bereiche von Körper, Geist und Emotionen zu öffnen. Und schließlich haben wir den Yoga der Berührung. Er hat eine sehr tiefe Wirkung auf den Körper. Diese verschiedenen Praktiken stellen eine große Unterstützung dar, um tief mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Sie führen zu einer kontinuierlichen Präsenz.
Wie kann Tantra helfen, durch eine sexuelle Praxis mit meinem Partner in die Gegenwart des Augenblicks zu kommen?
Präsenz ist der Schlüssel zu allem. Präsenz bedeutet, dass man vollkommen da ist, ohne Konzepte, ohne Grenzen. […]