Wir sind viel mehr als unser Name, unsere Rolle und unser Geschlecht. Sich dessen bewusst zu werden, kann ein äußerst spannendes Unterfangen sein, das uns sogar zu unserer Quelle zurückführen kann.
Über einige Jahre hinweg habe ich jährlich ein so genanntes „Enlightenment Intensive“ gemacht, bei dem sich Teilnehmer im Alter von ca. 20 bis 60 Jahren einfanden, um sich mit der Frage „Wer bin ich?“ zu beschäftigen und dabei nebenbei auch noch zu fasten. Die Frauen verpflichteten sich dazu, sich während der 12 Retreat-Tage nicht zu schminken, und die Männer verzichteten auf die Rasur. Kontakt zur Außenwelt sollten wir auch nicht haben. Lesen entfiel ebenfalls von der Liste der beliebtesten Ablenkungen, genauso wie Small Talk und auch Sex mit sich selbst oder mit den anderen Teilnehmern.
Von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends saßen wir uns immer wieder in Dyaden in einem angemessenen Abstand gegenüber und forderten uns in einem Takt von fünf Minuten im Wechsel auf: „Sag mir, wer du bist!“ Derjenige, der die Aufforderung aussprach, hatte dann nichts anderes zu tun, als seinem Gegenüber fünf Minuten lang seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken und sich bei diesem nach dem Ertönen des Gongs für die Offenheit zu bedanken. Danach bekam er die gleiche Frage gestellt, und sein Gegenüber war ebenfalls – wertfrei und ohne das Gesagte mit Blicken, Gesten oder Worten zu kommentieren – vollkommen für ihn da. Eine Dyade dauerte 40 Minuten. Danach gab es Frühstück, Geh- oder Arbeitsmeditation, Mittagessen, Pausen, Körperübungen, einen Vortrag und ein Abendessen. Insgesamt 12 Mal am Tag saß ich einem anderen Menschen gegenüber, und wir sollten vermeiden, zweimal am Tag mit der gleichen Person zu arbeiten.
Wenn die Fassade bröckelt
In den ersten zwei Tagen waren wir alle bemüht, uns irgendwie noch von unserer Schokoladenseite zu zeigen. Beruflicher Erfolg stand ganz oben, aber auch die Tiefe der Yogapraxis, die Ausbildungen bei großen und bekannten Yogalehrern und deren bereichernder Einfluss auf die eigene Praxis wurden immer wieder ins Feld geführt. Doch durch die eng vorgegebene Struktur des Tages und das permanente Reflektieren und Kontemplieren der so existenziellen Frage, wer wir eigentlich sind, bröckelten nach und nach die Fassaden, mit denen wir alle durchs Leben laufen, und wir begannen uns zu fragen: „Wenn all die Rollen wegfallen, wer bin ich dann wirklich?!“
Wir erkannten, wie unbewusst wir uns mit Rollen identifiziert hatten, die wir bereits mit der Muttermilch aufgesogen haben: mit dem Wunschkind, dem […]