Vor drei Wochen wurde eine gute Freundin Zeuge eines S-Bahn-Suizids. Wie immer, wenn ich von einem möglichen Suizid hörte, machte sich Betroffenheit in mir breit und meine Gedanken gingen voller Empathie zu dem verstorbenen Menschen. Ich stellte mir vor, wie unendlich groß das eigene Leid sein muss, um seinem eigenen Leben bewusst ein Ende zu setzen. Und wie schrecklich muss eine solche Situation für den Zugfahrer und die Polizisten sein, die unwillkürlich da hineingezogen werden. Ganz zu schweigen von dem nahen Umfeld eines solchen Menschen, das oftmals noch viele Jahre danach von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen geplagt wird. Wie betroffen waren z.B. alle vom Selbstmord des Torwarts Robert Enke im Jahre 2009 und wie schuldig fühlte sich der ganze Fußballbetrieb damals.
Wer gestresst ist, hat weniger Mitgefühl
Diese Freundin erzählte mir, dass viele Menschen in der S-Bahn sehr verärgert auf den Suizid reagiert hatten und monierten, dass sie jetzt ihren Flug verpassen oder zu spät zur Arbeit kommen würden. Sie war zutiefst betroffen über diese Reaktionen. Die Forschung hingegen weiß, dass die Ursache im Stress zu finden ist: Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen die gestresst sind, wenig Mitgefühl haben. Jeffrey Mogil, ein Mitarbeiter der McGill University in Montreal, führte einen Versuch durch, bei dem er bis zu 26 Studenten mehrfach eine halbe Minute in Eiswasser fassen ließ. Mal waren die Testpersonen bei dem Versuch alleine, ein anderes Mal stand ihnen ein Freund oder eine fremde Person gegenüber, die ebenfalls in das Wasser fasste. Im Anschluss daran mussten die Teilnehmer mitteilen, wie stark sie Schmerzen empfunden haben. Das Ergebnis erstaunte das Forschungsteam: In der Gegenwart eines Fremden empfanden sie genauso starke Schmerzen wie allein. In der Gegenwart eines Freundes dagegen nahm das Schmerzempfinden deutlich zu. Die Aussage „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ traf hier offensichtlich nicht zu. Stattdessen hat sich gezeigt, dass große Empathie zwischen zwei Menschen herrscht, wenn sie sich nahe sind. Was aber verhindert, dass wir Fremden gegenüber Mitgefühl empfinden?
Stressabbau fördert Mitgefühl
Die Forscher hatten eine Ahnung. Aus früheren Untersuchungen war ihnen bekannt, dass die Gegenwart eines Fremden zur Ausschüttung von mehr Stresshormonen führt als wenn wir uns unter Freunden befinden. Daraufhin ließen sie noch einmal Studenten, die sich nicht kannten, in Eiswasser fassen. Einige der Teilnehmer hatten jedoch vorher ein Mittel bekommen, das die Stressreaktion im Körper verhindert. Die andere Gruppe erhielt ein Placebo. Die Annahme der Wissenschaftler wurde bestätigt: Durch die Unterdrückung der Stresshormone im Körper fühlten die Testpersonen auch in der Nähe von fremden Menschen stärkere Schmerzen. Ihre Mimik und Gestik machte deutlich, dass ihr Mitgefühl für das Gegenüber gestiegen war.
Mitgefühl kultivieren
Wie aber können wir Mitgefühl fördern? Die Metta-Meditation, eine jahrtausendalte buddhistische Meditationsform, ist eine der bekanntesten Übungen. Bei ihr geht es darum, ganz gezielt eine Einstellung des liebevollen Wohlwollens für alle Wesen zu entwickeln. Mit „Metta“ (pali: Freundschaft, liebende Güte) ist Liebe im buddhistischen Sinne gemeint – in dem Sinne, wie diese von Erich Fromm, dem deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologen in dem Buch „Die Kunst des Liebens“ beschrieben wurde. Und zwar als ein uneigennütziges „Verströmen“ oder „Schenken“ von freundlichem, akzeptierenden Wohlwollen, das bedingungslos allen fühlenden Wesen inneren Frieden und Glück wünscht – ohne irgendeine Form von erotischem Begehren oder Nutzen.
So geht’s: Metta-Meditation für mehr Mitgefühl
Finde einen ruhigen Platz und setze dich in einer bequemen Position hin.
Richte dich an diesem Platz und zu dieser Zeit ein. Es gibt in diesem Moment nichts anderes zu tun, als Empathie und Mitgefühl für dich selbst und andere zu haben.
Öffne jetzt dein Herz und richte deine Aufmerksamkeit auf dich selbst. Schaue über das hinaus, von dem du glaubst, dass du es magst. Wende dich dem menschlichen Wesen zu, das Schmerz und Leid fühlen kann, und wünsche dir selbst etwas Gutes. Wiederhole dabei stetig den Vers:
Möge ich erfüllt sein von Liebe.
Möge ich erfüllt sein von Zufriedenheit.
Möge ich erfüllt sein von Weisheit.
Dehne jetzt dein Mitgefühl auf alles aus, was draußen lebendig ist – Pflanzen, Bäume, Insekten, Tiere und Menschen. Wie du selbst, so wollen auch sie nicht leiden. Öffne dein Herz und wünsche ihnen Gutes, indem du den Vers wiederholst:
Mögest du erfüllt sein von Liebe.
Mögest du erfüllt sein von Zufriedenheit.
Mögest du erfüllt sein von Weisheit.
Öffne jetzt deine Empathie für die Menschen, die du magst. Schaue über das hinaus, was du an ihnen magst und wende dich dem menschlichen Wesen zu, das atmet und Schmerzen haben kann. Wünsche ihnen alles Gute, indem du den Vers wiederholst:
Mögest du erfüllt sein von Liebe.
Mögest du erfüllt sein von Zufriedenheit.
Mögest du erfüllt sein von Weisheit.
Bringe nun dein Mitgefühl den Menschen entgegen, mit denen du Schwierigkeiten hast. Schaue über das, was du an ihnen nicht magst, hinaus und wende dich dem menschlichen Wesen zu, das genau wie du leidet, wenn es Schmerzen hat. Wünsche ihm Gutes und wiederhole im Stillen den Vers:
Mögest du erfüllt sein von Liebe.
Mögest du erfüllt sein von Zufriedenheit.
Mögest du erfüllt sein von Weisheit.
Weite nun schließlich dein Bewusstsein noch einmal und öffne dein Herz und deine Fürsorge für alle Menschen:
Mögen alle Wesen erfüllt sein von Liebe.
Mögen alle Wesen erfüllt sein von Zufriedenheit.
Mögen alle Wesen erfüllt sein von Weisheit.