„Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende“, behauptete schon Demokrit rund 400 v. Chr. Das erinnert an die Weisheiten so mancher indischer Yogalehrer à la „große Schmerzen in der Gegenwart führen zu großer Freude in der Zukunft“ – was natürlich an sich eine gefährliche Aussage ist. In westlichen Yogaklassen scheint die Tendenz hingegen in Richtung übertriebener Vorsicht zu gehen! Ist diese aber nicht ebenso gefährlich? Die Antwort liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Keine Frage, es gibt gute Gründe für achtsame Vorsicht, aber nicht minder für mehr Mut und Selbstverantwortung auf der Yogamatte und im Leben.
Als Yogalehrer/in gewinnt man im ersten Moment keinen Beliebtheitswettbewerb. Das muss man in dieser „Berufung“ liebevoll hinnehmen. Wenn ich unterrichte, ist es eine der größten Herausforderungen für mich, meine Schüler mutig zu fordern und an ihre individuellen Grenzen heranzuführen. Und das gar nicht in erster Linie aus der Angst heraus, jemand könnte sich verletzen, obwohl das natürlich im Hinterkopf mitschwingt.
Ein Yogalehrer ist kein Wohlfühlcoach, sondern jemand, der yogische Konzepte und Methoden weitergibt, um damit andere auf ihrem Yogaweg, beziehungsweise in ihrem Selbstfindungsprozess, zu unterstützten. Somit gehört es mitunter auch zu den Aufgaben eines Lehrers bzw. einer Lehrerin, andere an unangenehme Grenzen zu bringen, an die sie sich alleine vielleicht nicht wagen würden. Doch nur durch das Ausdehnen des eigenen Horizonts kann Entwicklung passieren. Gleichsam, wie so manches Asana erst mit der Dehnung oder Kräftigung der dafür nötigen Muskelpartie für jemanden in den Bereich des Möglichen rücken kann.
Mit Gewohnheiten brechen …
„Gehe nur so tief in die Übung, dass es nicht unangenehm wird“, so der O-Ton in vielen westlichen Yogastudios. Doch was heißt „unangenehm“? Als Patanjali in seinen Yogasutras schrieb „sthira sukham asanam“, war damit nicht gemeint „verweile in deiner bequemen Komfortzone“, sondern „die Körperhaltung sollte stabil und angenehm sein[1]“ Das ist ein Unterschied. Was unser Körper nun als angenehm oder eben unangenehm empfindet, ist nicht nur von Mensch zu Mensch verschieden, sondern hängt auch stark mit Gewohnheiten und Bequemlichkeiten zusammen. Klarerweise beschwert sich jede Wirbelsäule zunächst, wenn sie sich plötzlich hoch aufrichten soll, und das ohne die nötige Unterstützung der Rückenmuskulatur. Denn diese ist bei vielen von uns aufgrund von zu langen Bürotagen und Autofahrten oder zu wenig Bewegung zusehends verkümmert. Aber sollten wir nun gekrümmt im Dandasana sitzen, weil es sich aufs Erste angenehmer anfühlt? Ich denke, wir sind uns einig, das wäre keine gute Lösung.
Weil Schmerz nicht gleich Schmerz ist …
Während der Yogapraxis besteht natürlich immer das potenzielle Risiko einer faszialen Überdehnung oder einer Überbelastung von Gelenken, Bändern, Sehnen oder Muskeln. Kaum ein „Ashtangi“ beispielsweise hatte nicht schon mit seiner Kniesehne zu kämpfen. Es braucht Viveka – die Unterscheidungskraft, um die Sprache des eigenen Körpers richtig zu deuten: Diese Eigenschaft zu kultivieren ist eine der ersten und wichtigsten Übungen am Anfang des Yogaweges. Denn Schmerz ist nicht gleich Schmerz und nicht alles, was sich unangenehm anfühlt, sollte auch gemieden werden.
Als grobe Anhaltspunkte für Schmerzen, die während der Praxis auftreten, gelten:
- Bei stechenden, akuten Schmerzen, beispielsweise im Gelenk oder am Muskelansatz, solltest du sofort die Intensität herausnehmen, oder gleich ganz aus dem Asana herausgehen. Anatomie-Experte Stu Girling* empfiehlt in solchen Situation die RICE-Regel: R=Rest/Ruhe, I=Ice/Eis, C=Compression/Kompression, E=Elevation/Hochlagerung.
- Bei unangenehmen Dehnungsschmerzen im Muskelbauch kannst du hingegen versuchen, die Atmung zu vertiefen und Stück für Stück mehr loszulassen und zu entspannen. Physisch, aber vor allem auch mental. Denn Flexibilität entsteht mitunter in einem entspannten Kopf.
Apropos: Zu den schmerzanfälligsten Körperstellen bei Yogis gehören die Schultern, der untere Rücken, die Handgelenke und Knie sowie der Nacken.
Grenzenlos üben …
Jedes Asana verlangt jedem von uns auf seine ganz eigene Art eine andere Qualität ab. Es erfordert Mut, seine Grenzen auszutesten, seien es die physischen oder die mentalen. Denn nicht selten kommen mit dem Dehnungsschmerz auch emotionale Blockaden und Herausforderungen zum Vorschein. Etwas, das zum Beispiel Yin Yogis verstärkt erfahren. Häufig stellen uns spezifische Yogapositionen vor Schwierigkeiten, denen wir auch im Leben begegnen. Diese verändern sich im Laufe der Zeit. Haben wir uns einem Problem gestellt und es für uns gemeistert, folgt auch gleich die nächste „Challenge“.
Für mich sind es derzeit die Rückbeugen, die mich jeden Tag auf der Yogamatte herausfordern, mein Herz mutig zu öffnen und mich in die Unwissenheit fallen zu lassen. Oder Umkehrhaltungen, die mir Kraft und Selbstvertrauen abverlangen. So ist die Yogapraxis ein täglich wertvoller Balanceakt. Mit dem Ziel, mich so weit auf eine Asana einzulassen, um der Angst tapfer die Stirn zu bieten, und meinen Körper dabei nicht zu überfordern.
Konzentriert üben …
Mal braucht es Geduld, mal Anstrengung, mal Balance, aber immer bedarf Yoga unserer vollen Konzentration. Letztere ist das A und O einer guten Praxis. Denn besser als die Vorsicht schützt uns die Konzentrative der Achtsamkeit vor Verletzungen. Indem wir auf unseren Körper hören, seine Signale deuten und seine Forderungen erfüllen lernen, üben wir gesund. Nicht, indem wir uns aus Ehrfurcht vor Asanas wie etwa dem Kopfstand drücken: „Sirshasana“ ist für viele lange Zeit ein scheinbar unerreichbares Ziel in der eigenen Yogapraxis – doch auch der Kopfstand ist mitunter Kopfsache. Denn wenn man sich zu sehr von einer Haltung/ Herausforderung einschüchtern lässt, baut sich unnötig Angst auf, die uns eine unbeschwerte und mutige Praxis/ Lebensweise schnell erschweren kann. Und wer ängstlich übt, öffnet die Tore für Verletzungen ebenso wie jemand, der unbewusst oder zu streng mit sich übt.
Natürlich gehört zu einer gesunden Praxis auch ausreichend Vorbereitung in Form von Vorübungen sowie das Wissen über die korrekte Ausrichtung. Und schließlich gehört auch das Erkennen und Annehmen eigener anatomischer Beschränkungen zu einer mutigen Praxis dazu, denn nicht jedes Asana ist mit jedem Körperbau möglich.
Der Körper als Lehrer: Ein Aufruf zur Selbstverantwortung!
Letzen Endes hat nicht der oder die Yogalehrer/in vorne auf der Matte das Sagen, sondern du selbst bestimmt, wie weit du gehen möchtest und was du heute, in diesem Augenblick brauchst. Hechelst du dem vorgegebenen Atemrhythmus hinterher oder kannst du achtsam bei deinem heutigen Atemvolumen bleiben? Auch hier ist Selbstverantwortung gefragt. Schließlich ist der Atem der Maßstab für das Asana. Es braucht Mut, seinem eigenen Atem/ seinen eigenen Bedürfnissen zu folgen und sich auch in der Gruppe im eigenen Tempo zu bewegen.
Natürlich gehört hier auch dazu, ein gewisses Gespür für die Bedürfnisse des eigenen Körpers zu entwickeln. Denn manchmal brauchen wir in Wahrheit genau das nicht, was wir zu brauchen meinen: Jemand, der ohne die nötige „Action“ schnell unruhig und nervös wird, könnte eventuell gerade dann von einer Yin Yoga Stunde profitieren, während andere, die müde und antriebslos in die Stunde kommen, vielleicht besser ihr Agni, ihr inneres Feuer anfachen und mit etwas mehr Power üben können. Auch hier hörst du am besten auf deine Intuition, die Stimme deines Wesenskerns, die dir mitteilt, was sie heute wirklich braucht.
„Du kannst nicht aufrichtig sein, wenn Du nicht mutig bist. Du kannst nicht liebevoll sein, wenn Du nicht mutig bist. Du kannst nicht vertrauen, wenn Du nicht mutig bist. Du kannst die Wirklichkeit nicht erkunden, wenn Du nicht mutig bist. Deshalb ist Mut das Wichtigste. Alles andere folgt von selbst.“
(OSHO)
*Mehr zum Thema Yoga und Schmerzen kannst du direkt in Stu’s Blog nachlesen.
[1] Übersetzung nach www.vedanta-yoga.de