Nicht der Geist muß Gewissheit erhalten, sondern das Herz.
Nirvana ist da, wo das Mitleid für Andere alle Gedanken an ein Ich übertrifft, (…) wo die Offenbarung des Edlen Wissens, welche Buddhaheit bedeutet, sich in vollkommener Liebe für Alle ausdrückt.
(Lankavatara-Sutra)
Die ersten authentischen östlichen Texte, die ich als junger Student Anfang der achtziger Jahre in deutscher Übersetzung aus dem Englischen las, waren die von Raoul von Muralt herausgegebenen und übersetzten Meditations-Sutras des Mahayana-Buddhismus, die ich mir von meinem damaligen Lehrer Manfred Gies ausgeliehen hatte. Mit einem Vorwort versehen hatte sie Lama Anagarika Govinda, dessen Name mir damals unbekannt war und nichts sagte. Mit aller Deutlichkeit weist dieses Vorwort allerdings darauf hin, dass es in diesen, dem Westen noch weitgehend unbekannten, den Pali-Kanon authentisch ergänzenden Texten nicht um eine bloße Vernunftlehre, um Philosophie und intellektuellen Rationalismus geht, sondern um Fingerzeige auf letztlich unsagbare Prozesse, die den „von Freiheitsdrang“ Beseelten, „nach Vollendung und höchster Erleuchtung“ Strebenden über intuitive Erkenntnisse zum „ursprünglichen Erlebnis der inneren Wirklichkeit des lebendigen Odems“ führen, „dem Erlebnis der Erleuchtung (Sambodhi), der Überwindung individueller Bewusstseinsgrenzen durch Aufhebung der Ich-Illusion“. Das Denken und Erkennen muss sich seiner Verstrickung in dualistische Begriffe, die wechselseitig voneinander abhängen und auseinander hervorgehen, bewusstwerden, sich als bedingt durch die ganze Vorgeschichte und alle Phänomene als relativ begreifen, um in einer nur meditativ, durch Ausschalten des Denkens zu erreichenden völligen geistigen „Umkehr und Umwandlung, eine Umkehr im tiefsten Sitze unseres Bewusstseins“, „von sich selbst frei zu werden“, zur Ruhe zu kommen und „eine neue Dimension geistiger Erfahrung jenseits der Grenzen mundanen Bewusstseins“ zu eröffnen. Der Kern dieser Erfahrung eines „ungeborenen Bewusstseins“, das nach dem „Brechen mit unseren Denkgewohnheiten“ mit Erreichen des „anderen Ufers“ erlangt werden kann, ist Leere, Shunyata, die zugleich tiefe Ruhe, Unendlichkeit, Zeitlosigkeit ist.
Überschreiten und Erlöschen des Ich und seines unablässigen Denkens, die Erfahrung der Leere und Ruhe, einer tiefen und endgültigen Befriedigung, des Heils im Erreichen des „anderen Ufers“: eine erhebliche Herausforderung für einen jungen Studenten, von dem wissenschaftliche Arbeiten, der Abschluss des Studiums und eine dem Broterwerb dienende berufliche Tätigkeit erwartet wurden und in dem neben der Sehnsucht nach Befreiung noch andere lebendige Leidenschaften brannten.
„Der Geist muss frei gehalten werden von allen Gedanken, die in ihm entstehen.“ „Gedanken und Giergelüste (sind) zu unterjochen“, um „vollkommene Geistesruhe zu verwirklichen.“
Das Ich-Bewusstsein, die Ich-Erfahrung, das wurde in den Texten immer wieder sehr klar, war das Problem. Die alltägliche Ich-Erfahrung steht der ersehnten Befreiung im Weg.
Worte, die letztlich ganz unzureichend sind, die lebendige Erfahrung auszudrücken, sollen in demjenigen, der reif dafür ist, Vertrauen und Glaube erwecken, danach zu leben. Auf geheimnisvolle Weise sind diese Schriften von Sinn durchtränkt, von Sein und Kraft, die in lebendige Wechselwirkung geraten kann mit dem Entwicklungsgrad des Lesenden. Sie weisen auf Unaussprechliches hin und tragen dazu bei, einen intuitiven Erkenntnisprozess zu entzünden, der Worte und Gedanken überschreitet und zu dem überwältigenden Erlebnis der Befreiung, der Ganzheit führen kann, nach dem Welt und Selbst immer noch dasselbe und gleichzeitig radikal verwandelt sind.
Diese Erfahrung, Samadhi, so überwältigend sie auch ist, ist gleichzeitig „nichts Besonderes“. Der am anderen Ufer Ankommende findet sich dort, wo er immer schon war und alle anderen auch sind. Nirvana ist nicht unterschieden vom Samsara, denn es gibt nichts, das nicht von der Leere durchdrungen ist. Der Himmel ist auch die andere Erde. Was dem bedingten, dualistischen Bewusstsein als Samsara erscheint, ist dem unbedingten, nicht-dualistischen Bewusstsein Nirvana.
Von den vielen Erkenntnissen, Erleuchtungen, Gewissheiten, die einem auf dem Weg zu teil wurden, bleibt nicht viel. Ihre – nahezu unvermeidlichen – sprachlichen Fassungen sind lediglich Flöße, die mit Erreichen des anderen Ufers nicht mehr gebraucht werden. Wittgensteins Leitern. Nichts, was geeignet wäre, ein System zu ergeben oder wortwörtlich bewahrt, geglaubt und verehrt zu werden.
Auf die mit einer von Lama Anagarika Govinda entworfenen Vignette ausgestatteten Bände wurde ich wieder im Zusammenhang mit meiner Arbeit über Luise Rinser und Lama Anagarika Govinda aufmerksam. Lese ich heute noch einmal darin, kann ich lebhaft ahnen, wie diese Texte damals Intuition und Begreifenwollen inspiriert und beflügelt haben. Dass das Anhalten und Ausschalten des Denkens und Begehrens keine Kleinigkeit und die Universität nicht der Ort ist, dies zu bewerkstelligen, kann man in den seit damals entstanden Texten nachlesen.
Auf diese Texte und die in ihnen enthaltenen Wahrheiten aufmerksam zu machen und sie, so gut wie möglich, auf Nachfrage anderen zu erläutern, sei – auf jede Gefahr des Scheiterns hin – ein größeres Verdienst als unermessliche Freigiebigkeit. Solches Verdienst, das dem Ich gleichwohl nicht zugeschrieben werden kann und darf, kommt Manfred Gies zu, der uns junge Studierende Anfang der achtziger Jahre in Saarbrücken durch sein intensives, außergewöhnliches Auftreten angesprochen und geweckt und jeden für sich auf unabsehbare Wege geschickt hat. Sie sind auch heute noch allen zu empfehlen, die ernsthaft an Befreiung und Heil interessiert sind.