In dieser Serie stellen wir Ihnen verschiedene Yoga-Strömungen und Stile vor. Anhand von komprimierten Porträts der einzelnen Schulen möchten wir Ihnen einen Überblick über die weite und vielfältige „Yoga-Landschaft“ verschaffen. Diesmal: Sivananda-Yoga
Swami Sivananda ist der Vater des Sivananda Yoga. 1887 als Sohn einer wohlhabenden und gebildeten, orthodox-hinduistischen Familie in Tamil Nadu geboren, fühlte sich Kuppuswamy – so seiner ursprünglicher Name – schon im Kindesalter von den durch seine Heimatstadt ziehenden Sannyasins angezogen, die er gern mit Speisen versorgte oder nach Hause einlud. Nachdem er später im Anschluss an ein glänzend absolviertes Medizinstudium zehn Jahre lang als Arzt in Malaysia tätig war, entschloss er sich selbst zum Leben eines Wandermönches. Zurück in Indien begab sich Kuppuswamy auf ausführliche Pilgerfahrten. 1924 erhielt er in Rishikesh seine Mönchsweihe und den Namen Swami Sivananda Sarasvati. In den Folgejahren rief er zunächst einen Verein zur Förderung der Mönche ins Leben und baute schließlich den Sivananda Ashram auf. 1939 gründete Swami Sivananda die Divine Life Society, die der Verbreitung spirituellen Wissens dient und sich für die Entstehung von Ausbildungsinstitutionen, Krankenhäusern und anderen gemeinnützigen Einrichtungen einsetzt. 1948 eröffnete er die Yoga Vedanta Forest University.
Bei dem von Swami Sivananda empfohlenen und vorgelebten Yogaweg handelt es sich um den Yoga der Synthese, der die vier Hauptwege Karma-Yoga, Bhakti-Yoga, Jnana-Yoga und Raja-Yoga umfasst, wobei Letzterer Kundalini- und Hatha-Yoga einschließt. Diese einander ergänzenden Wege gilt es nach Swami Sivananda allesamt in die spirituelle Praxis einzubeziehen, um durch ihr Zusammenwirken eine positive Entwicklung in Lebensstil und Persönlichkeit und letztlich das yogische Ziel der Einswerdung mit dem Göttlichen zu erreichen. Er integrierte Praktiken aus ihnen allen in einer ausgewogenen Sadhana.
Ohne Frage war Swami Sivananda ein Mann von großer intellektueller Brillianz, was sich in seinen zahlreichen philosophischen Schriften widerspiegelt. Zugleich war er jedoch sehr praxisorientiert. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass er in seinen Schriften komplexe Sachverhalte verständlich und einfach zusammenfasste und damit unzählige Menschen zur spirituellen Praxis anregte und anleitete. Einer seiner Lieblingssprüche lautet „Ein Gramm Praxis ist besser als Tonnen von Theorie“. Diese viel zitierte Aussage veranlasste, so heißt es, einmal einen Besucher zu der Frage, warum er denn dann über 300 Bücher geschrieben habe. Swami Sivananda antwortete darauf spitzbübisch lächelnd: „Manche Menschen brauchen Tonnen von Theorie, um zu einem Gramm Praxis angeregt zu werden.“ Vielleicht war es der verschmitzte Humor, der seine Schüler so anzog, vielleicht war es auch maßgeblich die oft gerühmte Güte, die Menschen aus aller Welt dazu ermunterte, sich in seiner Obhut auf den Weg zur spirituellen Verwirklichung zu begeben.
Obwohl er Indien abgesehen von der Zeit als Arzt in Malaysia und einer Reise nach Ceylon nie verließ, wurden auch im Ausland unzählige Suchende auf Swami Sivanandas Wirken aufmerksam und reisten zu ihm in den Ashram oder entwickelten durch das Studium seiner Schriften eine spirituelle Lebensweise, schon bevor sein Schüler Swami Vishnu-devananda in den 50er Jahren im Westen die heutige Form des Sivananda Yoga etablierte. Swami Sivananda formulierte 20 Leitsätze, die den von ihm nahe gelegten Lebenswandel beschreiben und den Schülern des Sivananda Pfads eine gute Orientierung bieten (siehe Kästchen). Der Aphorismus, der das Wesen des Sivananda Yoga wohl am besten zum Ausdruck bringt, besagt: „Diene, liebe, gib, reinige dich, meditiere und verwirkliche“.
Swami Sivananda ging am 13. Juli 1963 in Mahasamadhi ein. Zu den Schülern, die sein Werk besonders fruchtbar weiterführten, gehören neben Swami Vishnu-devananda u.a. Swami Chidananda (seit 1948 Generalsekretär der Divine Life Society) und Swami Krishnananda sowie viele weitere.
Swami Vishnu-devananda
Die heute verbreitete Form des Sivananda Yoga wurde von Swami Vishnu-devananda, einem Schüler Swami Sivanandas, entwickelt und stellt eine zu fünf prägnanten Pfeiler zusammengefasste, speziell auf die Bedürfnisse der Menschen in den westlichen Ländern ausgerichtete Systematisierung des klassischen Yoga dar. Die von Swami Vishnu-devananda (1927-1993) hervorgehobenen fünf Prinzipien sind richtiges Üben (Asanas), richtige Atmung (Prananyama), richtige Entspannung (Savasana), richtige Ernährung sowie als fünfte Säule positives Denken (Vedanta) und Meditation (Dhyana). Für das richtige Üben wählte Swami Vishnu-devananda für die tägliche Praxis folgende zwölf Basisübungen aus, die alle Bewegungsmöglichkeiten des Körpers ansprechen: Kopfstand (Sirshasana), Schulterstand (Sarvangasana), Pflug (Halasana), Fisch (Matsyasana), vorwärtsgebeugte Stellung (Paschimotanasana), Heuschrecke (Salabasana), Bogen (Dhanurasana), Drehsitz (Arda Matsyendrasana), Krähe (Kakasana), Hand-Fußstellung (Pada Hastasana) und Dreieck (Trikonasana). Vor dieser Zwölfer Reihe, die auch als „Rishikesh Reihe“ bekannt ist, wird zum Aufwärmen der Sonnengruß, Surya Namaskar, praktiziert.
Bei den Pranayama-Übungen liegt das Hauptaugenmerk auf Kapalabhati and Anuloma Viloma. Für die körperliche Entspannung wird Savasana empfohlen, hinzu kommen aber auch mentale Entspannung und die spirituelle Entspannung durch Loslassen der
Ich-Identifikation und Realisierung des eigentlichen Selbst. Zur Ernährung soll eine simple, natürliche, vegetarische Kost gewählt werden. Positives Denken meint, die Kernaussagen der Upanishaden, vor allem diejenigen über das Identisch-Sein von allem und jedem mit dem Göttlichen, als praktische Lebenserfahrung zu erfahren. Dieser Punkt schließlich wird durch Meditation komplettiert.
Swami Vishnu-devananda hatte zehn Jahre im Sivananda Ashram verbracht und ist dort schnell zu einem außergewöhnlichen Experten auf dem Gebiet des Hatha-Yoga geworden, bevor er eines Tages von Swami Sivananda mit einem Zehn-Rupien-Schein auf den Weg geschickt wurde, um unter den im Westen wartenden Menschen die Lehren des Yoga zu verbreiten.
Für weltweites Aufsehen sorgte er durch seine Friedensmissionen, bei denen er in einem kleinen Flugzeug über Krisenherde flog und sie mit Blumen und Friedensflugblättern „bombardierte“.
Gründung der weltweiten Sivananda Zentren
Swami Vishnu-devananda bereiste nach seinem Aufbruch aus Indien im Jahr 1957 zunächst die USA. 1959 gründete er in Montreal, Kanada, das erste Sivananda Yoga Vedanta Zentrum. Seitdem kamen weltweit mehr als 80 weitere Einrichtungen hinzu. Insgesamt bestehen heute 21 Sivananda Zentren in elf verschiedenen Ländern, 20 angeschlossene Zentren, acht Ashrams und zahlreiche mit der Sivananda Organisation verbundene Yogaschulen. Swami Vishnu-devananda entwarf auch die erste Yogalehrerausbildung, nach der inzwischen mehr als 16.000 Yogalehrer zertifiziert wurden. Nach seinem Tod im Jahre 1993 wurde Swami Durgananda eine seiner Nachfolger. Swami Durgananda leitete den Aufbau der Sivananda Yoga Vedanta Zentren in Europa und gründete 1998 das Sivananda Yoga Vedanta Seminarhaus in Reith bei Kitzbühel/ Tirol. Wir haben ihr nachfolgend einige Fragen gestellt:
YOGA AKTUELL: Was macht Sivananda Yoga in Ihren Augen aus; durch welche Besonderheiten unterscheidet sich diese Tradition von anderen?
Swami Durgananda: Zunächst würde ich gerne etwas klären: Eigentlich gibt es keinen Sivananda-Yoga. Yoga erneuert sich mit jeder Generation. Entsprechend der eigenen Yogaerfahrung passen sich dabei äußere Formen dem Zeitgeist an. Dies sollte aber nicht als ein neuer „Yoga“ bezeichnet werden.
Es gibt 4 klassische Yoga-Wege: Jnana-Yoga, den Weg der Weisheit, Bhakti-Yoga, den Weg der Hingabe, Karma-Yoga, den Weg des selbstlosen Handelns, und Raja-Yoga, den Weg der Geisteskontrolle. Raja-Yoga hat viele Unterteilungen, wie zum Beispiel Hatha-Yoga, Kundalini-Yoga oder Mantra- Yoga. Swami Sivananda und Swami Vishnu-devananda lehrten eine Synthese der vier großen Yoga-Wege, so wie viele Yogameister Indiens, z.B. Sri Ramakrishna Paramahamsa und Swami Vivekananda. Die Tendenz, verschiedene Yoga-Schulen als „Stile“ zu bezeichnen, ist eine neue Entwicklung. Die meisten Yogaschulen im Westen unterrichten hauptsächlich Asanas – einen Teilaspekt des Hatha-Yoga. Der Name des Yoga-Stiles vermittelt dabei aber den Eindruck, als handle es sich um einen eigentlichen Yogaweg.
Zu seinen Lebzeiten sagte Swami Sivananda: „Macht keine Religion aus mir.“ Ebenso unangemessen erscheint es mir aber auch, den Namen eines Yogameisters in Form eines „Stils“ auf eine Art Markenbezeichnung zu begrenzen.
Was war es, das Sie persönlich diesen Weg hat einschlagen lassen?
Als ich 12 Jahre alt war, war ich fasziniert von einem Buch über Buddha. Diese Anziehung des Ostens vertiefte sich weiter, als ich begann Yoga-Asanas zu praktizieren. Auf der Suche nach einem Lehrer reiste ich ein Jahr durch Indien und lernte in verschiedenen Ashrams unter verschiedenen Meistern. Schließlich traf ich meinen Lehrer Swami Vishnu-devananda 1973 in Kalifornien.
Gibt es im Sivananda Yoga auch Aspekte, mit denen Sie sich schwer tun?
Heute sind die alten Yogalehren zugänglicher und weiter verbreitet als je zuvor. Dies ändert aber nichts daran, dass Yoga immer eine große Herausforderung bleibt. In der Praxis fällt einem nichts in den Schoß. Selbstdisziplin und Verhaftungslosigkeit müssen immer wieder neu aktiviert werden. Ein Kind, das laufen lernt, fällt immer wieder hin. Aber so lange es jedesmal wieder aufsteht, wird es laufen lernen.
Was würden Sie als wichtigstes Anliegen oder Ziel im Sivananda Yoga hervorheben?
Eine ausgeglichene Entwicklung der Persönlichkeit. Die hohen philosophischen und spirituellen Ziele des Yoga bleiben reine Theorie ohne die Entwicklung von Gesundheit, positivem Denken, Selbstlosigkeit und Selbstkontrolle.
Wie geht man in den Sivananda Zentren auf diejenigen zu, die zunächst nur an der Asana-Praxis interessiert sind? Wird in den Hatha-Yoga Klassen darauf hingewirkt, ihnen auch die anderen Dimensionen des Yoga näher zu bringen, oder wird dies weitgehend der Eigeninitiative überlassen?
Die Praxis der Yoga-Stellungen verfeinert die Atmung und vertieft die Entspannung nicht nur während der Yogastunde, sonder wirkt weit in den Alltag hinein. Selbst wenn Yoga zunächst nur als physische Übung praktiziert wird, stellt sich eine feinstoffliche Wirkung ein. Man wird sensibler und offener. Wer ein Jahr lang regelmäßig übt, wird von selbst beginnen, sich mit Fragen der Ernährung und der Geisteskontrolle zu beschäftigen.
Kommen neue Schüler oft mit völlig falschen Vorstellungen von Sivananda Yoga in die Zentren?
Wer noch nie Honig gekostet hat, wird sich diesen süßen Geschmack auch mit ausführlichen Erklärungen nicht vorstellen können. Somit könnte man sagen, dass jeder neue Schüler mit falschen Vorstellungen zu Yoga kommt. Die Aufgabe des Yogalehrers ist es, den Schüler dort zu treffen, wo er steht, und ihm den nächsten Schritt zu zeigen.
Auch wenn es im Yoga nicht um Rang und Namen geht, so kann man die Sivananda Zentren sicherlich als renommiert bezeichnen. Unzählige Menschen sind dort in den vergangenen Jahrzehnten unterrichtet worden. Welchen Beitrag haben die Sivananda Zentren dazu geleistet, dass sich Yoga gegenwärtig so immenser Beliebtheit erfreut?
Swami Sivanandas universelle Sicht, dass Yoga eine Bereicherung für Menschen aller Religionen und Erdteile ist, wurde von Swami Vishnu-devananda umgesetzt. Er war ein echter Weltbürger und lehrte persönlich Menschen aus allen Ländern. Er bewies, dass es keinen indischen, amerikanischen oder europäischen Yoga gibt. Dieser Geist hat die Sivananda Yoga Zentren stark geprägt und ist sehr bereichernd. Besonders in den Yogalehrerausbildungen ist die zwischenmenschliche Brüderlichkeit ein Schlüsselerlebnis, das die neuen Yogalehrer enorm inspiriert. Und diese Inspiration ist ansteckend, die Yogalehrer werden zu einem positiven Dynamo in ihrem eigenen Umfeld.
Versuchen die Vertreter der Sivananda Tradition, Verzerrungen im öffentlichen Bild von Yoga wie der teilweise vorherrschenden Reduktion auf körperliche Aspekte durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit entgegenzuwirken?
Spiritualität kann nicht gepredigt werden. Wie kann ein Baumwolltuch in ein Seidentuch verwandelt werden? Jeder einzelne Faden muss ausgewechselt werden. Wenn Yoga eine öffentliche Arbeit leisten kann, dann ist es eine Graswurzelbewegung. Bis heute gibt es in Indien keine einheitlichen Richtlinien oder Verbände für Yogaunterricht. Trotzdem oder gerade deshalb konnte sich Yoga in seiner Vielfalt über Jahrtausende entwickeln und erhalten. Wir sehen eine wichtige Aufgabe in der Aus- und Weiterbildung von Yogalehrern. Solange Yogalehrer persönlich durch ihre Praxis inspiriert sind, sind sie wie Blumen voller Nektar – die Bienen kommen zu ihnen.
Ein Wort zu den Ashrams: Halten Sie es für bedeutsam, dass ein Aspirant zumindest irgendwann einmal eine Zeit dort verbringt, oder ist diese Erfahrung abkömmlich?
Erst wenn das Eisen längere Zeit in der Glut liegt, beginnt es zu glühen. Bei einem Ashramaufenthalt wirken dieselben Praktiken, die man vielleicht bereits Jahre lang in einzelnen Yogastunden geübt hat, ganz anders. Die Wirkungen von Meditation, Asanas und Pranayama, regelmäßigen gesunden Mahlzeiten, erhebender Philosophie und einem positivem Umfeld ergänzen sich gegenseitig. Bereits nach wenigen Tagen spürt man einen großen Unterschied. Für eine komplettere Erfahrung sollte man sich zwei Wochen Zeit nehmen.
Immer wieder betonte Swami Sivananda die Wichtigkeit des Dienstes an den Mitmenschen. Inwiefern wird dieser Aspekt in der heutigen Arbeit der Sivananda Zentren berücksichtigt?
Das spirituelle Vakuum ist ein großes Leid unserer Zeit, insbesondere in den Großtädten. Die Sivananda Zentren in Delhi, New York, Berlin, Paris, London, etc. sind das ganze Jahr über geöffnet. Dieses Werk wird völlig von ehrenamtlichen Karma Yogis getragen. Es ist in sich eine wunderbare Sozialarbeit.
Swami Vishnu-devananda setzte mit seinen Friedensmissionen wie dem Flug über die Berliner Mauer auch politische Zeichen. Gibt es im Sivananda Yoga auch heute noch direktere politische Bestrebungen?
Der Auslöser für die Friedensarbeit von Swami Vishnu-devananda war eine Vision im Jahre 1969, in der er die Welt von einer Feuerwalze überrollt sah, angesichts derer keine menschgemachten Grenzen mehr Sinn machten. Nach langer Kontemplation begann Swami Vishnu-devananda die symbolischen Friedensflüge über internationale Krisenherde. Ein ebenso wichtiger Bestandteil dieser Friedensmission war die Entwicklung der ersten Yogalehrerausbildung 1969 im Westen. Swami Vishnu-devananda sah die Rolle des Yogalehrers dabei mehr als eine Berufung als einen Beruf. Diesen Geist versuchen wir aufrechtzuerhalten und damit zur Friedensarbeit beizutragen.
Haben Sie einen Lieblingsaphorismus von Swami Sivananda?
„Ein Gramm Praxis ist besser als Tonnen von Theorie.“