Facettenreich ist sie. Heilend kann sie sein. Aber auch etwas Verletzendes, ja so sogar etwas Zerstörerisches birgt sie. Warum die Macht der Stille größer ist, als wir glauben.
Als ich sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm, war ich zwölf Jahre alt. Ich kam gerade aus der Schule zurück und hatte riesigen Hunger. Bis dahin hatte ich sie nie gehört. Das ist in einem Haus mit vier sehr lebhaften Kindern, gastfreundlichen Eltern und einem angrenzenden Betrieb auch nicht sehr einfach. Laute Gespräche, Musik bis in die Morgenstunden, Türenknallen in den Kinderzimmern, Türklingeln an einer der zwei Haustüren, Lärm von streitenden Geschwistern, Ermahnungen der Eltern, laute Schritte auf dem Marmorboden des Treppenhauses, Gekicher der spielenden Geschwister, klirrendes Fensterglas, verursacht durch einen Fußball. Die Ankunft eines Autos. Unendlich viele Geräusche zogen sich durch den Tag, und an den Wochenenden oder Festtagen auch durch die Nacht.
Lerne, Kontakt zu der Stille
in dir aufzunehmen,
und wisse,
dass alles in diesem Leben
einen Sinn hat.
Elisabeth Kübler-Ross
Aber an diesem besagten Tag, an dem ich zwölf Jahre alt war, hörte ich sie zum ersten Mal ganz bewusst. Das ganze Haus war still. Nirgendwo konnte ich eines meiner Geschwisterkinder finden. Auch von meinen Eltern fehlte jegliche Spur. Es war einfach nur still. Ein Schrecken durchfuhr meine Glieder und setzte sich dort fest. Mitten in meinem Nervensystem. Und blieb dort stecken. Nirgendwo stand das Mittagessen. Nirgendwo sah ich meine Mutter.
Eine halbe Stunde später kam meine Mutter zusammen mit meinen Geschwistern nach Hause. Alle hatten Tränen in den Augen, und meine Mutter teilte mir mit, dass sie sich scheiden lassen würde und wir unser Elternhaus und unsere Geburtsstadt verlassen würden. Danach war für mich nichts mehr so wie zuvor. Wir zogen in eine andere Stadt und in ein neues Leben. Zum Trost hörte ich viel Musik. Laut und permanent. Fand neue Freunde und ein neues Leben. Darin vermied ich die Stille, vergaß jedoch mit der Zeit, warum. Aber wann immer es ruhig wurde, fühlte sich etwas in mir bedroht.
Nach Hause finden
Dennoch entwickelte irgendetwas in mir im Laufe der Jahre eine immer größer werdende Sehnsucht nach Stille. In den Bergen, oben auf den Gipfeln, freundete ich […]