In den kommenden Tagen bewegen wir uns unaufhaltsam auf eines der größten Massenrituale der westlichen Welt zu: Weihnachten. Wie kommt es zu einem rituellen bzw. zeremoniellen Gebaren, das ein fester Bestandteil von Bräuchen in allen Kulturen der Welt ist?
Meistens sind es Übergänge, die im Ritus gefeiert werden. Alte Wegstrecken enden, neue nehmen ihren Anfang – alldurchdrungen vom Geist des Sterbens und Neugeborenwerdens. Übergänge sind heikle Situationen. Die alten Kräfte sind vom Sterbeprozess geschwächt, die sich neu ankündigenden noch nicht vollständig entwickelt. Der oder das Sterbende bedarf hier eines besonderen Schutzes, da an der Bruchstelle des Übergangs die Tore zur geistigen Welt weit offen stehen und möglicherweise Kräfte anziehen, die nicht nur wohlwollend gestimmt sind. Aber auch andere Kräfte und Wesen sind bereit einzufließen: Schützende, fördernde, liebevolle Ahnen und Geistwesen sowie Gottheiten helfen gerne, wenn sie denn freundlich und erbittend gerufen werden. Sie gewährleisten sicheres Geleit in das neu anstehende Leben. Deshalb haben die Meister, Mystiker, Priester und Schamanen unserer Altvorderen aus ihrer Fähigkeit heraus, tief in die geistige Welt zu schauen, zahlreiche rituelle Rahmen entwickelt. Dies geschah jedoch anfänglich immer aus einem schöpferischen Impuls heraus, aus einer in der Tiefe durchdrungenen mystischen Schau und aus seelischer Ergriffenheit, die bei den Ritualen auf natürliche Weise große Spielräume an feierlicher Lebendigkeit zuließen.
Erst als der Mensch aus dem Yoga fiel, aus dem verbundenen Sein mit der geistigen Welt, wurden Rituale, Zeremonien und Feierlichkeiten starrer, in ihrer schier endlosen Wiederholung sinnentleerter, bis hin zur mechanischen, materiellen Abwicklung eines für viele so öden Kultus wie z.B. Weihnachten.
Weihnachten. Eine Nacht erhält ihre Weihe. Es ist Wintersonnenwende. Das solare Licht hat sich bereits über die Adventtage zum Sterben hingebettet. Es funkelt noch schwach in seinen letzten Atemzügen. Die Kräfte des Sterbens, der Dunkelheit und des Todes verbreiten ihre andächtige Stimmung. Wir spüren das, obwohl vom Materienwahn so sehr entseelt. Vieles soll vor Weihnachten noch hektisch erledigt werden. Wie ein Sterbender, dessen bevorstehender Tod angekündigt ist, und der seine Angelegenheiten noch rasch in Ordnung bringen will. Jetzt, da wir wissen, dass wir sterben werden, machen wir unseren Lieben noch großzügige Geschenke. Und dann kommt der Punkt, an dem das Licht sich in Schwäche dem Tode übergibt. Es ist die Nacht vom 21. zum 22. Dezember, wo Heliostasion, der „Stillstand der Sonne“, eintritt.
Es ist Weihnacht. Es ist dunkel, und wir sehen unseren Schatten ins Gesicht. Jetzt beherrschen Augenblicke der Ungewissheit das Geschehen. Wir sind allein. Die Tore zur Anderswelt sind geöffnet, und es ist still. Wird das Licht je wieder aufflammen?
Dies sind jene heiklen Situationen, von denen ich oben sprach. Hier bedarf es eines zeremoniellen Schutzes, innerhalb dessen Segen spendende Geistwesen gerufen und eingeladen werden, den Übergang schützend zu begleiten.
Noch immer ist es dunkel. Zaghaft, sanft, vielleicht auch ein wenig bangend, rufen wir leise das Licht. Denn es ist keinesfalls gewiss, dass es wiederkehrt. Wir wissen aus unserem kollektiven Erfahrungsspeicher, dass es auch Zeiten gab, in denen das Licht nicht wiederkehrte. In denen die Welt für lange Zeit in dunkle Wolken verhüllt verblieb. Und viele von uns kennen das Ausbleiben des Lichts in ihrem Leben aus eigener, schmerzhafter Erfahrung.
Deshalb feiern wir in Demut und Dankbarkeit die Anrufung der Geburt des Lichts in der heiligen Nacht. Diese Prozesse sind so fein und so voller Bedeutung für das Leben auf dieser Welt, dass es einer stillen Nacht, einer heiligen Nacht bedarf. Und wenn dann durch den Sonnengott das Christusbewusstsein in unserer Welt wieder neu geboren wird und sein lichtvoller Strahlenkranz am inneren Horizont erneut aufzuflammen beginnt, dürfen wir gnadenvoll und voller Dankbarkeit diesem schöpferischen Akt beiwohnen.
Glücklich können sich all jene schätzen, die in der heutigen Zeit in einer solchen heiligen Nacht noch den Mut aufbringen, in Stille die Augen zu schließen, um nach innen zu lauschen und nach innen zu schauen. Denn das in unserem göttlichen Lebe- und Liebewesen Gelauschte und Geschaute wird uns dauerhaft verändern.