Viele von uns besuchen regelmäßig Yogastunden und wer einen kompetenten Lehrer erwischt oder sich in gute Literatur eingelesen hat, hat sicherlich schon von Patanjali und seinem Yoga-Sutra gehört.
Das Yoga-Sutra gilt als das Grundlagenwerk des heutigen Yoga. Es ist der wohl bekannteste und bedeutendste Text des Yoga und obgleich es heute so viele unterschiedliche Yoga-Stile gibt, gehen sie in gewisser Weise doch alle auf das Yoga-Sutra zurück.
Yamas und Niyamas als Übungsfeld im Alltag
Ein Kernaspekt dieses Werkes macht der Ashtanga Yoga aus, der achtgliedrige Pfad (nicht zu verwechseln mit dem Yoga-Stil). Der Beginn dieses Pfades sind die sogenannten Yamas und Niyamas, die von dem einen als äußere und innere Disziplin, vom anderen gerne als ethischen Empfehlungen im Umgang mit anderen bzw. uns selbst übersetzt werden. Für mich persönlich sind die Yamas und Niyamas exakt jene Werkzeuge, die uns dabei helfen können, Yoga in den Alltag zu integrieren und so ein bewusstes und intensives Leben zu führen.
Ahimsa
Das bekannteste Yama ist Ahimsa, das Nicht-Verletzten oder die Gewaltlosigkeit. Interessanterweise erwähnt Patanjali zu jedem Yama bzw. Niyama auch den jeweiligen Benefit, den wir durch die jeweilige Integration in unser Leben erhalten können:
Gewaltlosigkeit löst Feindschaft in deiner Gegenwart auf und es entsteht eine Atmosphäre des Friedens und Mitgefühls um dich herum.
Ein Übungsfeld im Alltag wäre hier eine etwas hitzigere Diskussion in der Familie oder unter Freunden. Wir haben hier, grob gesagt, zwei mögliche Richtungen, in die wir lenken können. Richtung eins wäre mitzumachen und die Diskussion noch hitziger werden zu lassen – was ich in diesem Falle als „verletzende“ Richtung ansähe. Richtung zwei hingegen ist jene, die Kühle in die Diskussion bringt und dem Gegenüber somit womöglich die Grundlage für ein weiteres Diskutieren wegnimmt. Man könnte auch sagen, dass man das Zugeben an Holz in ein Feuer sein lässt. Was bestenfalls entsteht ist eine Atmosphäre des Friedens und damit ein harmonisches Umfeld, in dem wir uns alle wohl eher aufhalten möchten und wohlfühlen.
Ich mache selber immer wieder die Erfahrung, dass hitzige Diskussionen – sofern ich in meiner ahimsigen Mitte bin – an mir abprallen. Eine Arbeitskollegin von mir beispielsweise steht den ganzen Tag förmlich unter Strom und fast jeder eckt mit ihr an. Logisch, dass wenige gut auf sie zu sprechen sind, was die „Stromspannung“ nicht gerade herabsetzt, wenn sie mit jemandem spricht. Begegnet man ihr aber mit liebevollen Worten, löst sich die Spannung auf und siehe da: sie ist ja ganz angenehm. Ein großartiges Übungsfeld, jeden Tag.
Satya
Ein weiteres Yama ist Satya, die Wahrhaftigkeit:
Wahrhaftigkeit führt zur Reifung eines Raumes kraftvoller Gedanken. Dadurch werden deine Worte und Taten stark und bringen Gutes in die Welt.
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass selbst kleine Alltagslügen unsere Gedankenkraft schwächen, weil sie uns weniger gut fokussieren lassen. Ein Beispiel: Wenn mich eine Freundin fragt, ob ich am Wochenende für sie Zeit hätte und ich verneine, obwohl ich Zeit hätte, dann bringt mich das am Wochenende möglicherweise in ein kleines Gedankenchaos, weil ich aufpassen muss, dass sie nicht herausfindet, dass ich eigentlich Zeit für sie gehabt hätte. Gut, das wird nicht ganz so dramatisch sein, vielleicht fällt mir ja noch eine Tätigkeit als Ausrede ein. Aber viele Menschen weben ein solch großes Lügennetz um sich herum und kommen gar nicht mehr aus dem „Hoffentlich-fliegt-das-nicht-auf-Denken“ heraus, so dass klares Denken nahezu unmöglich wird: Dem einen wurde dies erzählt, dem anderen das, wieder einem anderen jenes… und hoffentlich spricht niemand von denen miteinander! Üben wir uns aber darin bei der Wahrheit zu bleiben, entsteht ein Raum fokussierter und kraftvoller Gedanken und wir können wirklich Gutes bewirken oder zumindest ein ruhiges Gedankengut im Geiste behalten – was sich höchstwahrscheinlich auch auf unsere meditative Praxis auswirken kann und damit wiederum mehr Freude ins Leben bringt. Wenn man’s genau nimmt ist wahrhaftig zu leben also ziemlich egoistisch. 😉
Das sind zwei von insgesamt zehn Yamas und Niyamas, zu denen es unendlich viel zu sagen gibt und die uns helfen können, Yoga in unseren Alltag zu integrieren und bewusst zu leben. In meinem Jahresprojekt 2016 möchte ich sie alle erforschen.
Dominik Grimm ist Autor und Yogalehrer. Über das Apnoetauchen kam er zum Yoga und beschäftigte sich während seiner Yogalehrerausbildung immer mehr mit veganer Ernährung. Er gründete das Label „Yogan“ und startete seinen Blog, auf dem er die yogane Philosophie vorstellt und der von vielen Tausenden verfolgt wird. Heute gibt er Yoga-Unterricht sowie Yogan-Workshops, -Retreats und -Seminare.
www.yogan-om.de