Der Körper bringt uns mit seinen Sinneswahrnehmungen in die Erfahrung des Hier und Jetzt. Zudem ist er ein Speicher grundlegender Wahrheiten über uns selbst, die wir mit Hilfe von liebevoller Achtsamkeit erkennen und würdigen können.
Dass uns der Körper Zugang zur Spiritualität gewährt, ja, gar eine Abkürzung dazu ist, ist eine einfache, aber wahre Aussage. Der Körper ist wie eine unschuldige Kreatur, und wenn wir weise mit ihm arbeiten, kann er uns ins magische Land des Jetzt, der Sinne und des Fühlens zurückbringen. Meine Hündin wartet am Nachmittag darauf, dass ich Zeit habe, mit ihr in den Park zu gehen. Sobald es soweit ist, steht sie aufgeregt und schwanzwedelnd vor der Tür. Es spielt keine Rolle, in welcher Verfassung ich bin, ob ich schlecht gelaunt bin oder mir Sorgen um etwas mache, ihre Freude und ihre Neugierde an allem, was ihr begegnet, sind immer ansteckend und lassen mich zurück in den gegenwärtigen Moment und ins Herz kommen. Genau das strebt unsere Yogapraxis auch an. Wenn wir uns auf unseren Körper auf die gleiche Art einlassen können wie auf einen Spaziergang mit unserem Hund, wird er uns zurück in die Wirklichkeit bringen. Wenn wir aufhören, unseren Körper zu misshandeln, und lernen, ihn zu respektieren und sogar zu lieben, erinnern wir uns an das, was wichtig ist im Leben.
Mein spiritueller Lieblingswitz: Es lebte einmal ein Novize in einem Kloster. Die Mönche lebten davon, die Schriften abzuschreiben. Da die Schriften aber so kostbar waren, hatte seit langer Zeit keiner von ihnen das Original zu Gesicht bekommen. Der Novize störte sich daran und drängte den Abt, die originale Schrift, an der er gerade arbeitete, sehen zu können. Letztlich gab der Abt nach und verschwand im Keller. Aber er kam nicht zurück. Stunden später folgte ihm der Novize hinunter in den Keller und sah den Abt wehklagend, gebeugt und mit den Händen vor dem Gesicht. Überrascht fragte der Novize den Abt, was passiert war. Darauf antwortete der Abt: „Es hieß, ‚celebrate‘ (Feier), nicht ‚celibate‘ (Zölibat).“ Wenn wir unsere Yogapraxis dazu gebrauchen, unsere Aufmerksamkeit zu trainieren, eröffnet sich uns eine andere Welt: die Welt der Sinne, des Fühlens, der Intuition und „desjenigen, der weiß“ – der inneren, weisen Stimme des Herzens.
Alles gedeiht unter Aufmerksamkeit
Wie ich in meinem Buch „Yoga & Dharma – the Art of Awakening“ beschreibe, widmet sich die erste Grundlage der Achtsamkeit im Körper dem Körperbewusstsein. Dies ist der Startpunkt unserer Praxis, denn wir haben jederzeit sofortigen Zugriff auf unseren Körper. Mit Hilfe der Aufmerksamkeit können wir tiefgründige Gewohnheitsmuster in Körper und Geist aufdecken. Indem wir sie ins Licht des Bewusstseins rücken, können wir sie untersuchen und verstehen. Traditionell bezieht sich dieser erste Grundsatz der Achtsamkeit auf alle Körperpositionen, ob stehend, gehend, sitzend oder liegend. Dies sind alles Positionen, die wir in unserer Yogapraxis einnehmen. Ohne dieses Training werden wir womöglich von Ängsten, Stress und Zweifeln beherrscht. Wir erfahren eine endlose und sich wiederholende Schleife, die das Rad des Leidens oder auch Samsara genannt wird. Indem wir den Geist trainieren und den Körper von Spannungen befreien, lernen wir nicht nur viel über uns selbst, sondern merken auch, dass wir uns das, was normalerweise „auf Autopilot“ läuft, bewusst machen und schließlich sogar ändern können. Mit der Vipassana-Praxis wird jede Regung von Körper und Geist zum heiligen Mantra. Wir schauen geduldig und mit großem Interesse auf alles, was unser Herz und unseren Geist beschäftigt. Die Frage ist, ob wir uns selbst genug wertschätzen lernen, um uns jeden Tag diese liebevolle Achtsamkeit und diesen Respekt zukommen zu lassen.
Der Körper sagt uns, wie wir uns wirklich fühlen
Der Körper ist, wie gesagt, noch unschuldig und sagt uns die Dinge genauso, wie sie sind. Wir können ihn bis zu einem gewissen Grad austricksen, ihn mit Kaffee stimulieren oder mit Hilfe von Medikamenten beruhigen, aber letztendlich sagt der Körper immer die Wahrheit.
„Die Wahrheit wird in unserem Körper gespeichert, und obwohl wir in der Lage sind, sie zu verdrängen, können wir sie nie verändern. Unser Verstand kann getäuscht werden, unsere Gefühle können manipuliert und unsere Vorstellungen verwirrt werden, und unser Körper kann mit Medikamenten ausgetrickst werden. Aber eines Tages wird uns unser Körper die Rechnung präsentieren, denn er ist ebenso unbestechlich wie ein Kind, das noch ganz in seiner Seele ist und keine Kompromisse oder Entschuldigungen akzeptiert. Unser Körper wird so lange nicht aufhören, uns zu quälen, bis wir aufhören, vor der Wahrheit zu fliehen.“ Alice Walker
Die meisten Yogaschüler wissen, wie es ist, wenn man sich auf die Matte begibt, um Asanas zu praktizieren. Wir sind voller Enthusiasmus und bereit, loszulegen. Sobald wir jedoch die erste Runde des Sonnengrußes durchführen, merken wir zu unserer Bestürzung, wie erschöpft wir sind. Der Körper sagt uns, wie wir uns wirklich fühlen. Wenn das früher bei mir der Fall war, habe ich oft dagegen rebelliert und Zeit verloren, indem ich versucht habe, jemand anderen oder auch mich selbst für meine Schwäche verantwortlich zu machen. Heute kann ich die Dinge so annehmen, wie sie sind, und mich mit einer langsameren, sanfteren Praxis wieder ins Gleichgewicht bringen. Hoffentlich erlaubt uns diese Einsicht, unseren Kurs zu ändern und an diesem Tag eine regenerierende Praxis zu üben und uns generell besser um uns selbst zu kümmern.