Erwacht und nicht mehr eingeschlafen: Eckhart Tolle im Porträt
Eckhart Tolle zählt zu den bedeutendsten spirituellen Lehrern der Gegenwart. Vielleicht liegt es daran, dass seine Botschaft, inneren Frieden zu finden und erfüllte Beziehungen zu führen, weder an eine religiöse Zugehörigkeit noch an bestimmte Techniken gebunden ist. Seine Botschaft lautet einfach: Die Liebe ist immer Jetzt! Je mehr wir also lernen, im Jetzt zu verweilen, desto eher werden unsere Beziehungen zu einem Ort der Liebe, der Wahrhaftigkeit und der Entfaltung! Zwei Jahre lang hatte Tolle sich zusammen mit seiner Lebensgefährtin Kim zurückgezogen. Letztes Jahr kam er wieder nach Deutschland, um die Menschen in seinen humorvollen und gleichzeitig tief gehenden Vorträgen zu erfreuen, und um zu vermitteln, wie leicht die Liebe aus dem Jetzt heraus sein kann.
Das Erwachen von Eckhart Tolle gleicht einem Märchen: Während seines Romanistik-Studiums wurde der gebürtige Deutsche immer wieder von Depressionen und Angstzuständen heimgesucht. Nach seinem Staatsexamen, als Doktorand in Cambridge, litt er, damals 29-jährig, unter einer solch schweren Depression, dass er dem Selbstmord nahe war. In diesem Zustand sagte er sich eines Nachts: „Ich will mit mir selbst nicht mehr weiterleben“. Dabei realisierte er plötzlich, dass es neben einem „Ich“ noch etwas anderes geben musste, nämlich ein „Selbst“. Dadurch erfuhr er eine elementare Bewusstseins-Verwandlung. Sein mit der Vergangenheit identifiziertes Ich verschwand. Ein tiefer, nicht enden wollender Friede tauchte auf und blieb bestehen.
Ohne anfangs selbst bewusst zu realisieren, was in der Tiefe mit ihm passiert war, verbrachte er die nächsten Jahre mit der Integration dieser Erfahrung. Tolle: „Nach meiner Bewusstseinswandlung habe ich mehrere Jahre damit verbracht, alle Lehrer, die ich finden konnte, zu besuchen und mit ihnen zu sprechen.
Denn zu der Zeit verstand ich noch nicht, was geschehen war. Ich wusste nur, dass ein innerer Zustand des Friedens da war. Ich hatte das starke Bedürfnis, mehr über meinen inneren Zustand zu lernen. Dann habe ich auch angefangen zu lesen. Gewisse Lehrer haben mir sehr geholfen, meinen eigenen Zustand zu erkennen und zu verstehen. So hat mir zum Beispiel ein Mönch gesagt, dass Zen damit zu tun hat, dass die Gedanken aufhören. Und in dem Moment erkannte ich zum ersten Mal, warum der Zustand des inneren Friedens da war. Da erst realisierte ich, dass ich gar nicht mehr viel denke, dass das zwanghafte Denken nicht mehr da ist. Dieses Denken hatte bei mir früher diesen schrecklichen inneren Zustand hervorgerufen. Jeder Gedanke war schmerzhaft.“
Tiefer Frieden
Mit der Zeit wurde der Friede, den Tolle erlebte, auch für andere in seiner Umgebung spürbar. Immer mehr Menschen fragten Tolle um Rat, wie es auch ihnen gelingen könnte, diesen tiefen Frieden zu erlangen. Auf deren Bitten hin, sein Wissen und seine Lehre aufzuschreiben, verfasste er „The Power of Now. – Jetzt! Die Kraft der Gegenwart.“ Es dauerte auch nicht lange, bis er mit diesem Buch zu einem internationalen Bestseller-Autor avancierte und mit seiner Botschaft „Sei gegenwärtig! Sei im Jetzt!“ um die Welt reiste.
Mittlerweile gehört der in Vancouver, Kanada, lebende Tolle zu den wichtigsten spirituellen Lehrern der Gegenwart. „Jetzt“ wurde in weit über 30 Sprachen übersetzt und stand wochenlang in der Bestsellerliste der New York Times auf Platz Nr. 1. Die Botschaft von Eckhart Tolle begeistert Menschen aus allen Erdteilen und allen Gesellschaftsschichten. Mittlerweile wurden seine Bücher, Videos und Kartensets weltweit bereits über 3 Millionen Mal verkauft und ein Ende seines Erfolges ist nicht abzusehen. Für die Verlage ist Eckhart Tolle ein Erfolgsgarant, den seine Bücher zählen mittlerweile für spirituell Suchende zur Pflichtliteratur auf dem Weg zum Erwachen.
„Es war für mich selbst auch überwältigend, wie schnell alles angewachsen ist. Aber es ist auch wundervoll zu sehen – wenn nicht das Schönste an dem Phänomen überhaupt – wie viele Menschen sich jetzt in einem Prozess der Bewusstseinswandlung befinden.“ verrät Eckhart Tolle in einem Interview und lacht auf eine sehr natürliche Weise, ohne ein Anzeichen jeglicher Starallüren. Begegnet man Eckhart Tolle persönlich, wirkt er nämlich eher bescheiden. Sein Weltruhm ist ihm nicht zu Kopf gestiegen. Menschen, die mit dem mittlerweile 58jährigen auf seinen Vorträgen und Reisen zu tun haben, erleben ihn als sehr einfachen, stillen, in sich ruhenden Menschen, der eher zurückhaltend, aber sehr liebevoll und auch humorvoll im Kontakt mit anderen ist. Manchmal wirkt er fast scheu und schüchtern und zieht sich gerne zurück, ist dabei aber klar und lässt erkennen, dass er genau weiß, was er will und was nicht.
Unendliche Weite
Interviewtermine mit ihm werden zu einer ganz besonderen Begegnung. Während ich etwa im Vorgarten einer Grünwalder Villa, in der er während seiner Vorträge in München untergebracht war, letzte Fragen an ihn für das bevorstehende Interview formulierte, waren sie in dem Moment verschwunden, als mir der zierlich wirkende Mann in einem kleinen Zimmer auf einem Sessel gegenüber saß. Sein Hemd war bis unters Kinn zugeknöpft und seine blauen Augen, umrahmt von leicht entzündeten Lidern, blickten mich offen und freundlich zugewandt an. Der Friede, den Tolle auf mich ausstrahlte, machte alle Fragen von einem Moment auf den anderen nichtig. Verweilt wäre ich gerne in Schweigen mit ihm! Trotzdem fragte ich ihn, was genau im Jetzt passiert: „Das vom Verstand kreierte Selbst verschwindet in diesem Zustand. Die Vergangenheit ist zwar noch da, man erinnert sich daran, aber man identifiziert sich nicht mehr mit ihr. Die Identität, die dann auftaucht, stammt von einem viel tieferen Ort, einem Gefühl des Seins, einem Gefühl der Lebendigkeit, einem Gefühl des vollkommenen Friedens, das hier im Jetzt ist. Das ist untrennbar von dem, was wir sind. Du bist DAS. Man könnte auch sagen: Du bist das Jetzt, das Bewusstseinsfeld, in dem alles passiert. Aber wir sind nicht das, was passiert. Das kommt und geht. Wir sind nicht die Gedanken und Emotionen, die kommen und gehen, sondern die Ruhe, der Raum, in dem es passiert. Und in dem Moment, in dem man sich erlaubt, das Jetzt zu sein, wie es ist, ist diese Weite, dieses unendliche Bewusstsein plötzlich da. Denn alles, was passiert, passiert in dieser Weite.“
Tiefe Stille
Dieser vollkommene Friede, den Tolle in seinen Interviews, Büchern und auf seinen Vorträgen überträgt, macht ihn so anziehend, dass er auf der ganzen Welt eingeladen wird. Allein in München waren es bei seinem letzten Besuch vor zwei Jahren über Tausend Menschen, die kamen und die lauschten und die ihn am Ende des Vortrags mit Ovationen verabschiedeten. Und auch seine Vorträge für den Herbst 2007 waren innerhalb kurzer Zeit ausverkauft, so dass die Veranstalter nun Videoinstallationen im Vorraum des Vortragsraumes aufbauen, um noch mehr Interessierten die Möglichkeit zu bieten, dabei zu sein, wenn Meister Eckhart über das Jetzt redet, über das es eigentlich nichts zu sagen gibt. Denn die Beziehung zwischen Tolle und seinem Publikum basiert auf der Stille, die im Kontakt mit ihm automatisch entsteht. So beginnt sein Vortrag mit bedeutungsvollem Schweigen. Nachdem er auf seinem Stuhl Platz genommen hat, sitzt er mit geschlossenen Augen für einige Minuten regungslos da. Dann spricht er in das an den Mund gerückte Mikrofon, langsam und leise: „Es ist fast schade, die Stille zu unterbrechen mit Worten.“ Auch wenn im Anschluss an diese Einleitung in den Vorträgen von Tolle zahllose Worte über seine schmalen Lippen kommen, ist der Friede hinter und zwischen den Worten spürbar und verbindet die Menschen in diesem Saal auf fast magische Weise miteinander.
Obwohl Tolle bei seinen Vorträgen spürt, wie sehr die Menschen ihm und seiner Botschaft zu Füßen liegen, so lehnt er einen Großteil der Einladungen ab, die auf ihn zukommen. „Es sind höchstens fünf Prozent, die ich annehme. Und auch das wird sich jetzt noch reduzieren. Ich habe diese Reisen und Veranstaltungen bisher gemacht, weil ich nicht anders konnte. Sie kamen an mich heran. Ich habe sie nie gesucht. Zum Glück hat das Buch mittlerweile eine eigene Energie. Es hat jetzt ein eigenes Leben. Ich sehe es sogar wie einen eigenen Energieraum. Ich habe auch gar nicht mehr das Gefühl, dass es mein Buch ist. Es ist jetzt erwachsen und arbeitet im kollektiven Bewusstsein der Menschen aktiv mit. Dann gibt es auch noch die Videos und Retreats und das alles arbeitet weiter. Schließlich ist es jetzt in fast allen Ländern der Welt zu kaufen.“
Trügerische Projektionen
Nach seiner letzten Welttournee hatte Eckhart Tolle sich zusammen mit seiner koreanischen Lebensgefährtin Kim für zwei Jahre zurückgezogen, um wieder zu mehr Ruhe zu finden. Und obwohl die Anfragen an Eckhart Tolle nicht abreißen, blieb er zwei Jahre im Rückzug und kehrt erst jetzt wieder nach Europa zurück. Dass er nicht so gerne in der Öffentlichkeit steht, liegt daran, dass er seinen eigenen Worten zufolge eher wie ein Einsiedler lebt. Im Vergleich zu vielen seiner Kollegen, die als spirituelle Lehrer durch die Welt reisen, Schülerschaften anziehen und sich dabei im Licht des Ruhmes sonnen und diesen genießen, bleibt Tolle in einer gewissen Weise am eigenen Erfolg eher unbeteiligt. Auf meine Frage: „Bleibt Ihr Ego wirklich verschwunden, auch jetzt, wo Sie so viel Ruhm erleben?“ antwortet er: „Solange ich nicht in die Illusion verfalle, dass ich für all dies verantwortlich bin als derjenige, der das tut, ist das Ego nicht da. Nur wenn ich der Illusion verfalle, dass die Leute kommen, um mich zu sehen, könnte ein spirituelles Ego entstehen. Aber ich weise die Leute immer darauf hin, dass sie nicht kommen sollen, um mich zu sehen, sondern um ihr Selbst zu vertiefen. Sonst wäre es stressig. Ich bin von Natur aus eher jemand, der zurückgezogen lebt, fast so wie ein Einsiedler. Und das, was jetzt passiert, ist eigentlich schon fast gegen meine Natur. Trotzdem begebe ich mich dort hinein und dann geht es auch ganz gut. Die Aufmerksamkeit, die jetzt von allen Seiten auf mich zukommt, ist etwas seltsam. Es sind natürlich auch die Projektionen, die von anderen Menschen auf mich übertragen werden. In diesem Falle ist es besonders wichtig für den spirituellen Lehrer, diese Projektionen nicht als Wahrheit zu betrachten, denn sonst glaubt man den Projektionen, die andere auf einen richten. Ich habe einige Lehrer gesehen, die dies getan haben. Sie haben nach einiger Zeit geglaubt, etwas Besonderes zu sein. Alle Menschen glauben nämlich, dass der spirituelle Lehrer etwas Besonderes ist, was allerdings gar nicht der Fall ist. Der spirituelle Lehrer ist eigentlich weniger besonders als der normale Mensch. Und nur aus dem Grund kommt etwas zum Vorschein, was tiefer liegt als bei anderen. Sobald man aber glaubt, etwas Besonderes zu sein, wird es wieder verdeckt.“
Durch die Bewusstseins-Verwandlung, die Tolle erlebt hat, weiß er nur zu gut, wie trügerisch sich diese Projektionen auf die Beziehung zu sich selbst und auf die Beziehungen zu anderen Menschen auswirken können. Wie genau unsere Beziehungen funktionieren, beschreibt er ausführlich in dem schmalen Buch „Lebendige Beziehungen Jetzt“. Die auf einen anderen Menschen gerichteten Projektionen sieht er nicht nur als Problem in einer Beziehung zwischen einem spirituellen Lehrer und seinem Schüler, sondern als eines der zentralsten Probleme in den meisten zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt. Tolles Worten zufolge sucht sich das Ego einen bestimmten Menschen aus, macht diesen zu etwas Besonderem und benutzt ihn unbewusst, um die eigene, permanente innere unterschwellige Unzufriedenheit zu kaschieren und das Gefühl, nicht genug zu haben oder zu sein, zu überdecken. Damit beschreibt er in einfachen Worten auch die rosarote Brille, die wir gerne aufsetzen, wenn wir uns verlieben. In einem solchen Moment projizieren wir all das in das Objekt unserer Liebe hinein, was wir selbst nicht haben oder was wir von einem anderen Menschen erwarten. Tolle folgert, und dies hat wahrscheinlich auch schon jeder Mensch am eigenen Leibe erfahren, dass eine solche Projektion nicht ewig halten kann, und dass der Mensch, den man bewundert und begehrt, den eigenen Schmerz, die eigene Unzufriedenheit oder den eigenen Verdruss irgendwann nicht mehr überdecken kann. Somit muss das überlagerte Gefühl des Mangels früher oder später wieder zum Vorschein kommen. Allerdings projizieren die meisten Menschen die eigene Unzulänglichkeit dann unbewusst fälschlicherweise auf den Partner, statt zu erkennen, dass der Mangel einzig und alleine in ihnen selbst liegt. Man ist enttäuscht, entdeckt plötzlich zahlreiche „unvollkommene“ Eigenschaften an dem anderen und bevor man sich versieht, kann die große Liebe in tiefen Hass umschlagen und sich in Formen äußern wie Besitzanspruch, Eifersucht, Selbstbezogenheit, Kontrolle, emotionale Forderungen, unausgesprochene Vorwürfe, als das Bedürfnis Recht zu haben oder als Drang zu kritisieren, zu urteilen, anzuklagen oder anzugreifen – um nur einige Beispiele zu nennen.
Kommen wir in solch kritischen Momenten nicht mit dem Jetzt in Kontakt, dann werden die Probleme, die daraus resultieren, langfristig sehr groß. Die Beziehungen – insbesondere die intimen Beziehungen – haben dann etwas zutiefst Unvollkommenes und haben – so Tolle – etwas Gestörtes. Auch wenn sie uns in den Anfängen perfekt erschienen oder wir das Gefühl haben, dass gerade dieses Spannungsfeld von Hass-Liebe, von Anziehung-Ablehnung diese Liebe ausmacht, zeigt sich hier, dass diese Liebe und Vollkommenheit immer wieder unweigerlich gestört wird, sobald Streit, Konflikte, Unzufriedenheit und emotionale oder schlimmer noch körperliche Gewalt auftreten. Eine gewisse Zeit, manchmal Monate oder Jahre, schwingt die Beziehung zwischen den Polen Liebe-Hass hin und her und bringt den Betreffenden Freude und Schmerz zu gleichen Teilen. Manche Paare fühlen sich in einer solchen Dynamik sogar lebendig, und verwechseln diese Dynamik fälschlicherweise mit Liebe. Für Tolle hingegen ist eine solche Form der Beziehung eine aus der Gedankenwelt, dem Ego resultierende Beziehung. Was Tolle in Bezug auf intime Beziehungen beschreibt, gilt letztendlich für jede Form der zwischenmenschlichen Beziehung.
Bereichernde Herausforderungen
Laut Tolle können wir dem Teufelskreislauf dieser gestörten Beziehungen, die zwischen den Polaritäten Liebe-Hass hin- und herpendeln, einzig und alleine durch die Hingabe an das Jetzt entrinnen. Nur der gegenwärtige Moment kann dem Menschen das geben, was er fälschlicherweise vom Objekt seiner Liebe erwartet: inneren Frieden. Sobald man aber den anderen nicht permanent nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen ändern möchte und stattdessen vollkommen das annimmt, was ist, kann das unter den unerfüllbaren Wünschen des Egos liegende auftauchen: ein tiefer, innerer Frieden, Stille, Lebendigkeit, und eine bedingungslose Liebe, die jenseits der Polarität von Liebe und Hass liegt. Geben wir dem Raum, erkennen wir, dass es genau dieses unbeschreibliches Glück ist, von dem wir geglaubt haben, dass nur der andere es uns geben könnte. Das soll natürlich nicht heißen, dass es in einer Beziehung, die aus dem Jetzt heraus gelebt wird, keine Auseinandersetzungen mehr geben kann. Tolle antwortete auf meine Frage, ob es im Jetzt in der Beziehung mit seiner Lebensgefährtin Kim keine Streitpunkte oder Beziehungsprobleme gibt: „Die besondere Herausforderung einer Beziehung ist, den emotionalen Zustand des Partners sowie die eigenen Emotionen zuzulassen und gleichzeitig zu erkennen, dass es neben den Emotionen noch einen tiefen Raum gibt. Wenn einem das gelingt, ist man nicht vollständig gefangen von seinen eigenen Emotionen. Dieser weite Raum ist der Schlüssel für die Herausforderungen in den persönlichen Beziehungen. Man könnte auch sagen, dass man versucht, diese Emotion zu entpersonifizieren. Denn jede Emotion ist nur eine menschliche Emotion und eigentlich gar nichts Persönliches.“
Unabhängige Beziehungen
Laut Tolle ist es für jeden Menschen möglich, sich aus abhängigen Beziehungsmustern zu lösen und eine wahre Beziehung zu führen. Die Lösung ist auch hier: Sei gegenwärtig! Sei im Jetzt! Aber noch sind die meisten Menschen so mit ihrem Ich, mit ihren aus dem Verstand erzeugten Selbst identifiziert, dass sie glauben, dass der gegenwärtige Moment ihnen nicht das bringen kann, was sie für ihren innern Frieden und eine echte Liebesbeziehung brauchen: Tolle erläutert diesen Mechanismus folgendermaßen: „Dieses Selbst, das aus den Gedankenformen entstanden ist, lehnt den gegenwärtigen Moment ab, denn es ist nur an der Vergangenheit und der Zukunft interessiert. Dadurch ist der Mensch verdammt – es herrscht ein permanenter Zustand von Unzufriedenheit: bei dem Familienvater mit seinen vier Kindern, dem Gefangenen oder bei dem erfolgreichen Geschäftsmann, der kurz vor einem Herzinfarkt steht. Jeder kämpft auf die eine oder andere Art und Weise. Und es hat nichts damit zu tun, ob man viel oder wenig Geld hat. Die Unzufriedenheit und das Unglück werden in die eigene, persönliche Identifikation integriert. Das durch die Gedanken kreierte Selbst ist nicht am Jetzt interessiert, weil die Wahrnehmung dieses Selbst, des Ego, auf der Vergangenheit basiert. Es betrachtet das Jetzt als Hindernis auf dem Weg, wo es eigentlich hin will: in die Zukunft. Irgendeine Situation in der Zukunft, in der „Ich mehr ich selbst sein kann“.
Bedingungslose Annahme
Dieses Selbst, das Tolle an anderer Stelle als Denker bezeichnet, hindert uns nicht nur daran, in den gegenwärtigen Moment zu gehen, es gibt uns darüber hinaus auch noch das Gefühl, dass genau dieses Selbst, dieser Denker uns ausmacht. Gelingt es uns hingegen, zum stillen Beobachter der eigenen Gedanken, des eigenen Verhaltens und des eigenen Denkers zu werden, kann es langsam zu einer De-Identifikation mit dem Selbst, mit dem Denker kommen. Hört man also auf, den Denker über alles zu stellen und sich von ihm regieren zu lassen, verliert er seine Zwanghaftigkeit. Diese besteht im Prinzip darin, alles zu beurteilen und sich mit aller Macht gegen den gegenwärtigen Moment zu wehren. Nimmt man hingegen das, was ist, bedingungslos an, ist man von der Vorherrschaft des Denkers befreit und hat Raum für Liebe, Freude, für Frieden.
Ein konstantes Erleben des Jetzt, so wie es sich bei Tolle vollzog, erfahren die meisten Menschen wahrscheinlich nicht von heute auf morgen. Auf die Frage, wie ich dem Jetzt am nächsten komme, antworte er: „Man kommt Jetzt näher, in dem man sagt: Das Jetzt ist schon hier. Sagen Sie nicht: Ich muss es erst noch erreichen. Für die Änderung des Bewusstseins braucht man keine Zeit. Dieser Gedanke ist das größte Hindernis. Das heißt, Sie brauchen nirgendwo hinzugehen. Sie brauchen nur vollkommen Ja zum gegenwärtigen Moment, zum Jetzt, zu sagen.“
Wachsendes Bewusstein
Zum Glück werden es immer mehr Menschen, die das Jetzt erfahren, wenn auch nur moment- oder phasenweise. Dies ist laut Tolle auch notwendig: „Es findet ein globales Bewusstseinswachstum auf diesem Planeten statt. Dies war bislang nicht der Fall. Früher war die Transformation des Bewusstseins eher purer Luxus. Es gelang nur einigen wenigen Menschen, so genannte Erleuchtung zu erlangen. Aber die Situation hat sich geändert. Zum ersten Mal in der Geschichte der Erde bedroht die Dysfunktion, die in dem alten Bewusstsein der Menschen herrscht, nicht nur das Überleben der Menschen, sondern auch das Überleben der Erde selbst. Sie äußert sich zum Beispiel in der Zunahme von Terroranschlägen, Kriegen und Umweltzerstörung. Diese Dysfunktion, die wir bereits im 20. Jahrhundert gesehen haben, wird immer schlimmer. Wenn es keinen Bewusstseinswandel gibt, ist es unwahrscheinlich, dass die Menschheit oder der Planet noch weitere 100 Jahre überleben wird. Nun gibt es zum ersten Mal die Situation, dass wir uns entweder ändern müssen oder wir sterben. Mit anderen Worten könnte man auch sagen: uns geht die Zeit aus. Das heißt, dass ein evolutionärer Druck auf dem Menschen lastet. Wahrscheinlich geht keine Spezies ohne diesen Druck durch eine evolutionäre Transformation. Das alte Bewusstsein funktioniert nicht mehr und etwas Neues muss entstehen. Aus diesem Grund besteht zum ersten Mal die Notwendigkeit einer kollektiven Bewusstseinstransformation. Es ist wundervoll, dies mitzuerleben, gleichzeitig aber auch eine sehr schwierige Zeit.“
In seinem Buch „Die neue Erde“ geht Tolle noch tiefer auf die Notwendigkeit ein, ein neues Bewusstsein zu schaffen, um die Erde, mit der jeder Mensch hier in Beziehung steht, zu retten. Seine Maxime lautet: Weiterentwicklung oder Tod. Auch wenn sie sehr radikal klingt, wird sie von vielen Weisheitslehrern geteilt. Und so scheint es fast, dass die Naturkatastrophen, die wachsende Gewalt, die wirtschaftlichen Unsicherheiten durch die alle althergebrachten Sicherheiten schwinden, uns immer mehr in den gegenwärtigen Moment zwingen, um diese Transformation zu erleben, in der wir erkennen, dass wir letztendlich eins sind mit allem. Denn Friede und Stille sind nicht teilbar. Sie sind einfach, sind eins. In einem solchen Moment erkennen wir auch, das wir weder einen anderen Menschen brauchen, der die vom Verstand erschaffenen Mängel überdeckt, noch eine Beziehung zu uns selbst, sondern einfach nur wir selbst sein müssen. Denn sobald man in Beziehung mit sich selbst ist, ist man nach Tolle nicht mehr vollständig in der Präsenz des gegenwärtigen Momentes, sondern hat sich schon wieder in zwei gespalten, in „ich“ und „mich“, Subjekt und Objekt. Diese vom Verstand geschaffene Dualität ist der Grund für all die unnötigen Komplikationen, für all die Probleme und Konflikte, die man im Leben und in den Beziehungen hat. Im Zustand der vollkommenen gegenwärtigen Präsenz ist man, wer man ist – das „ich“ und „mein“, das „du“ und „du-selbst“ verschmelzen zu einer Einheit, in der man sich nicht selbst verurteilt, sich selbst nicht mehr leid tut, nicht mehr stolz auf sich ist, sich selbst nicht mehr liebt, sich selbst nicht mehr hasst und so weiter. Ist man somit vollkommen, wirklich mit jeder Faser seines Körpers, seiner Seele und seines Geistes im gegenwärtigen Moment, im Jetzt, ist eine Beziehung für immer vorbei: Die Beziehung zwischen dem „Ich“ und dem „Selbst“. Und sobald man diese Beziehung aufgegeben hat, werden alle anderen Beziehungen – selbst die zu unseren größten Feinden – zu Liebesbeziehungen.