Unsere Welt befindet sich im Krieg – einem Meinungskrieg. Meinungen tragen spaltende Kräfte in sich. Eine Meinung zu „haben“ und damit „etwas im Schilde zu führen“, ist das maßgebende Denkformat einer kali-yugischen Zeitepoche. Als Kali-Yuga wird in der Überlieferung ein „eisernes Zeitalter“ bezeichnet. Es gibt auch goldene, silberne und bronzene Zeitalter. Das eiserne ist das unsere. Die Menschheit versinkt hier in Trennung, Hass und Lügen, und ertrinkt in einem Meer aus Unwissenheit (Avidya) und Ignoranz. Das Denken und Handeln hat im Kali-Yuga seine sattvische Klarheit verloren. Das Heilige, Lichtvolle ist erheblich geschwächt. Anhaftung, Illusion und Orientierungslosigkeit bestimmen die menschliche Existenz. Unzählige „Meinungen“ treffen auf unzählige „Deinungen“. Und wo es „Mein“ und „Dein“ gibt, entstehen Unvereinbarkeit und Streit.
Meinungen werden von unserem „Mind“ (engl. = Verstand) produziert. Das englische Wort weist deutlich auf die „mind-ere“ Qualität dieses Aspektes unseres komplexen geistig-psychischen Instruments (Antahkarana) hin, das sich aus Manas (empirischer Verstand), Chitta (Speicher von Eindrücken, Neigungen), Ahamkara (Ich-Bewusstheit) und Buddhi (höhere Erkenntniskraft, Weisheit) zusammensetzt.
Gegen den Verstand (Manas) ist an sich nichts einzuwenden, solange er die Arbeit verrichtet, die ihm gebührt. Als ein zur menschlichen Körpersubstanz (Gehirn) gehörendes, feinstoffliches Organ, sichert die manasische Funktion unserem Manifestationskörper das zum täglichen Überleben Notwendige. Im Kontext der natürlichen hierarchischen Ordnung unseres Antahkarana obliegt dem Verstand die Rolle eines Dieners, der von der königlichen Buddhi, dem geistigen Organ der höheren Weisheit und Unterscheidungskraft (Viveka), dirigiert wird. Buddhi ist der „goldene Trichter“, durch den wir intuitiv aus der überpersönlichen Quelle der Weisheit (Atman) inspiriert werden. Erst durch Buddhi vermögen wir aus den von Manas gelieferten Sinneseindrücken zwischen wahr und unwahr, zwischen wirklich und unwirklich zu unterscheiden. Während Manas ausschließlich auf horizontale, ich-bezogene Bewusstheit fixiert ist, ist Buddhi mit dem vertikalen Strom höheren, überpersönlichen Bewusstseins verbunden.
In den letzten 5000 Jahren des Kali-Yuga ist es dann wie zu erwarten zu einem Putsch gekommen. Das Manasische hat im Menschen sein totalitäres Herrschaftsregime errichtet, Buddhi entmachtet und dessen kostbare Quellzugänge zum Himmlischen zugeschüttet. Deshalb findet unser menschliches Denken fast nur noch auf horizontaler Ebene statt. Wir sind nur mehr in der Lage, „quer“ zu denken, und verzetteln uns in endlose Konflikte, anstatt „vertikal“ zu denken und uns im Lichte des Bewusstseins zu versöhnen.
Im Yoga werden Manas drei Eigenschaften zugesprochen. Erstens: Es ist sprunghaft wie ein Hüpfball. Zweitens: Es lässt sich durch zentrifugale Kräfte permanent nach außen tragen. Und drittens: Es nimmt die Gestalt bzw. Schwingung des Objektes an, mit dem es sich beschäftigt. Dabei kann es solche Bindungskräfte entwickeln, dass es den Objekten seiner Wahrnehmung tendenziell absolutistische Eigenschaften zuweist, sie für „die Realität“ hält und als „alternativlose Identität“ übernimmt.
Vollkommen identifiziert mit dem Objekt seiner Wahrnehmung ereilt es jedoch früher oder später das Schicksal des griechischen Narziss, der sich hypnotisiert in sein Spiegel(trug)-bild verliebt und darin am Ende jämmerlich ertrinkt.
Da es ein Instrument des Materiellen ist, ist für Manas die Materie und deren empirische Wahrnehmung der „einzige Gott“, der im Akte eines materialistischen Monismus auf absolutistische Weise verehrt wird. Dabei kann unser Verstand ohne Buddhi nicht erkennen, dass die Objekte seiner Wahrnehmung einer relativen Welt angehören, in der alles – wie in einem Spiel aus Licht und Schatten – entsteht, wächst und wieder vergeht. Wie kann das Vergängliche jemals wirklich wahr sein? Wie kann etwas als absolut angenommen werden, das sich ständig wandelt, das heute so erscheint, morgen bereits verändert ist und übermorgen wieder verschwindet?
Die Tendenz des Verstandes, sich vollkommen mit den Objekten seiner Wahrnehmung, seines Begehrens oder Ablehnens, zu identifizieren, ihnen Glauben zu schenken, ist das große Dilemma unserer menschlichen Existenz und die Wurzel aller Konflikte. So begeht jeder, der mit dem Vergänglichen einen Pakt eingeht und der Versuchung erliegt, es auf das Podest der Absolutheit zu erheben, Verrat am heiligen, himmlischen Prinzip unseres Atman-Brahman-Wesens, das als pures Sein von allem losgelöst (Vairagya) ist und dennoch als einzige Wirklichkeit alles durchdringt. Ihm allein ist der Wortbegriff des Absoluten geweiht, dessen Ursprung sich nicht von Ungefähr vom lateinischen absolvere – loslösen – ableitet.
Der von weltlichen Eindrücken hypnotisierte Mensch hat sich gegen das Himmlische verschworen, indem er aus Ignoranz, Unwissenheit und Illusion unentwegt seinen Eid auf das Vergängliche leistet und dem Relativen absolute Treue schwört.
Dieser Verrat verursacht die klaffende Wunde von Mein und Dein, von Spaltung und Trennung. Dieser Verrat am Prinzip des ewigen, unwandelbaren Wahr-Seins ist die eigentliche große Weltverschwörung unserer Zeit und Ursache aller anderen Verschwörungen mitsamt ihren unzähligen Theorien.
Als Konsequenz erfährt der Mensch, der sich aus Unwissenheit zu tief in das Geflecht der materiellen Verschwörung verstrickt hat, dass im samsarischen Zeitenlauf von Werden und Vergehen ein jeder Eid zum Leid und ein jeder Schwur zum Geschwür wird. Deshalb ist es weise, sofort loszulassen, wenn der Wahn der weltlichen Erscheinungen überhandnimmt. Erst im Akt des „heiligen Loslassens“ (Param Vairagya) vermag sich das eiserne in das goldene Zeitalter (Satya-Yuga) zu transzendieren als den lichtvollen Bewusstseinszustand eines von Weisheit getragenen Jiva (Seele).