Dirk Grosser und Jennie Appel haben ein Buch über die Kraft der Natur geschrieben. Wir trafen Dirk zum Interview und sprachen mit ihm über seine Beweggründe zum Buch und darüber, wie auch Yogis vom „Kraftort Natur“ profitieren können.
Zahlreiche Haltungen im Yoga haben ihren Namen aus der Natur: Die bekanntesten sind wohl der Baum und der Berg. Wenn wir uns im Sinne des Yoga in diesen Haltungen mit der Kraft dieser Schöpfungen verbinden, können wir davon profitieren, uns stärken und wieder wahrnehmen, dass wir mit allem verbunden sind.
Interview
Yoga Aktuell: Gerade ist euer Buch „Kraftort Natur“ erschienen, das du zusammen mit deiner Frau Jennie Appel geschrieben hast. Wieso rückt die Natur gerade so in unser Bewusstsein?
Dirk Grosser: Jennie und ich haben während der Arbeit an diesem Projekt viel miteinander gesprochen – darüber, was uns die Natur bedeutet, was wir in ihr sehen, was uns berührt und so weiter. Ebenso haben wir uns gefragt, wie das wohl andere Menschen empfinden. Und uns ist bei Gesprächen im Freundeskreis und beim Austausch mit unseren Seminarteilnehmern aufgefallen, dass viele Menschen eine große Sehnsucht nach Natur und Naturerfahrung in sich tragen. Uns schien es so, dass sehr viele Menschen sich durch beruflichen und privaten Stress, durch all die Verpflichtungen, die ihr Alltag mit sich bringt, aber auch durch Medien sowie moderne Kommunikationswege und dem von ihnen ausgelösten Druck, ständig verfügbar zu sein, von der Welt abgetrennt fühlen. Oft fehlt der Zugang, oder um es anders auszudrücken: man sieht auf Facebook mehr Tiere und Bäume als im wirklichen Leben, was ja letztlich sehr traurig ist. Ich denke, dass dieses Getrenntsein ein Ausmaß erreicht hat, dass wirkliches Leiden nach sich zieht.
Die Beschäftigung mit Technik kann faszinierend sein, aber sie kann uns nicht so viel Kraft schenken, wie ein Aufenthalt in der Natur, ein Waldspaziergang, ein Sitzen an einem nebligen See oder der Ausblick von einem Berg. Wir haben die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte im direkten Bezug zur Natur verbracht. Städte und entsprechend urbanes Leben gibt es in diesem Sinne erst seit Kurzem, ganz zu schweigen von all unserem Hightech-Equipment. Wir können uns sicherlich gut anpassen und irgendwie klarkommen, aber vielen Menschen wird immer mehr bewusst, dass ihnen etwas Entscheidendes fehlt – etwas Ursprüngliches, Urwüchsiges, eine Kraft, die aus der Verbindung entsteht, aus Wind, Sonne, Regen, den Sternen, dem würzigen Duft des Waldes und der Wirkung all dieser Phänomene auf unsere Seele … Jedes Tier braucht einen bestimmten, natürlichen Lebensraum. Da ist der Mensch – der ja auch ein Tier ist, wenn auch ein sehr spezielles – keine Ausnahme, denkt das aber oft. Und langsam wird das immer mehr Menschen bewusst. Die Sehnsucht wird größer. Die Sehnsucht nach tiefer Verbindung zur Welt, zur Kraft der Erde, zur natürlichen Schönheit.
Für wen ist dieses Buch geschrieben?
Für all die Menschen, denen es wichtig ist, die Welt und sich selbst zu spüren – die ganz tief in ihrem Inneren erfahren wollen, dass sie ein Teil dieser Welt sind, dass sie dazugehören und hier genau am richtigen Ort im Universum sind. Für diejenigen, die das Gute und Schöne im Wilden wahrnehmen können, und die mit einer blendend weißen, makellosen Apple-Plastikwelt nicht zufrieden sind, weil sie genau spüren, dass ihnen dann etwas fehlt. Und für die, die Tiere, Bäume, Blumen, Steine, Moose, Flüsse, Meere und Wüsten lieben, die sich dort selbst entdecken und tatsächlich mit der Welt kommunizieren möchten.
Der Untertitel des Buches lautet „Wurzeln entdecken, Ruhe finden, Wachstum erleben“. Kannst du deinen eigenen Kindern helfen, sich in der Natur mit der Erde zu verwurzeln?
Ich mache keine speziellen Übungen mit ihnen, falls du so etwas meinst. Ich halte nicht viel davon, Kindern eine bestimmte Form von Spiritualität aufzudrücken oder sie zu einer Weltsicht zu drängen, die mir vielleicht etwas gibt, ihnen aber nicht. Aber sie sind beide ziemlich wissbegierig und stellen viele Fragen, die ich stets versuche, zu beantworten. Daher kennen sie viele Zusammenhänge. Sie wissen, dass die Meere und die Wälder dafür sorgen, dass wir atmen können. Sie kennen die groben Fakten der Evolutionslehre, wissen, dass die Sonne sich im genau richtigen Abstand zur Erde befindet, um hier Leben zu ermöglichen und so weiter. Und sie können auch damit umgehen, dass z.B. der Fuchs die niedlichen Babys der Wildkaninchen umbringt, um seine eigene Familie zu versorgen. Der Kreislauf des Lebens inklusive Fressen und Gefressenwerden ist ihnen nicht unbekannt, und sie haben auch keine Disney-Illusionen darüber.
Von daher glaube ich, dass ich ihnen gar nicht helfen muss, sich mit der Erde zu verwurzeln. Das waren sie schon immer und werden es hoffentlich immer sein. Ich vermute eher, dass vielmehr sie mir mit ihren Fragen, mit ihrem Staunen und ihrer Unbefangenheit dabei geholfen haben, mich selbst an meine Verwurzelung zu erinnern und diese zu stärken, mich nicht von meinem eigenen Denken ablenken zu lassen.
Wieso fühlen sich so viele Menschen heute entwurzelt?
Ein paar Punkte haben wir wohl schon angesprochen: Stress, Hektik, die Anforderungen des Alltags, moderne Kommunikationstechnik, etc. Bitte nicht falsch verstehen: Ich habe nichts gegen die Moderne. Ich glaube bloß, dass wir Technik manchmal nicht einfach benutzen, sondern uns in gewissem Sinne von ihr benutzen lassen. Da sollten wir alle genau hinschauen.
Generell gibt es wohl gesellschaftliche Entwicklungen, die Entfremdung vorantreiben. Unsere Konsumwelt erschafft immer neue Scheinbedürfnisse, für deren Erfüllung wir immer mehr Geld brauchen, also immer mehr oder immer härter arbeiten müssen. Das macht uns aber so unglücklich, dass wir uns dann mit Dingen zu trösten versuchen. Dinge, für die wir wieder Geld benötigen, also noch mehr verdienen müssen, womit eine weitere Runde auf dem Karussell der Entfremdung eingeläutet wird. Das ist natürlich sehr vergröbert dargestellt, aber ich denke, es wird klar, was ich meine.
Wenn wir so leben, haben wir auf jeden Fall zu wenig Zeit, um uns auf eine wirklich tiefe Beziehung zur Natur einzulassen. Und dann wird es auch mit der Beziehung zu uns selbst schwierig. Wir können es uns nicht erlauben, einfach mal ein paar Stunden an einen Baum gelehnt dazusitzen und nichts zu tun. Muße ist heute ein Luxus – und das empfinde ich als eine fatale Fehlentwicklung! Es gibt so einen unausgesprochenen Anspruch der ständigen Verfügbarkeit, der ständigen Erreichbarkeit und der absoluten Flexibilität. Letzteres stelle ich bei vielen Menschen fest, die in sehr verantwortlichen Positionen arbeiten und denen ich dann in meinen Meditationsseminaren begegne: Da hat man heute eine Stelle in München, soll aber nächsten Monat nach Hamburg ziehen, um dort irgendeine Zweigstelle aufzubauen, nur um dann wieder ein paar Monate in China zuzubringen und danach einen Abstecher in die USA zu machen. Ein Leben in Bewegung ist ein Business-Ideal, scheint mir. Nur kommen die Menschen dabei oft unter die Räder. Wer jedes Jahr umzieht, dem fällt es sicher schwer, irgendwo einzuwurzeln und sich Zuhause zu fühlen. Vielleicht bin ich da zu altmodisch, aber ich glaube, Heimat ist nichts Schlimmes und tut Menschen gut. Wenn man diese Heimat immer wieder für die Karriere aufgibt, muss man sich nicht über ein inneres Unruhegefühl wundern. Und diese Unruhe ist ein Zeichen für Entwurzelung.
Diese ganzen Faktoren spielen für mich zusammen und sorgen dafür, dass viele Menschen ständig umhereilen, auch dann, wenn sie es gar nicht müssten. Sie sind es einfach nicht anders gewohnt. Und bei all dieser Unruhe ist keine Zeit, kein Platz für ein Einwurzeln.
Und warum ist es so wichtig, sich wieder zu verwurzeln?
Verwurzelung bedeutet für mich vor allem Beziehung. Es bedeutet, die Erde unter den eigenen Füßen zu spüren; die Luft, die wir atmen, wirklich wahrzunehmen; unser Essen zu schmecken; die Schönheit eines vorbeisegelnden Reihers zu sehen; die Menschen, die wir lieben, wirklich zu berühren und sich von ihnen berühren zu lassen; der Welt zu lauschen und uns als Teil von ihr zu verstehen. Wir gehen eine Beziehung mit uns selbst ein, mit unseren Mitgeschöpfen und mit der Welt, die uns umgibt. In diesem Sinne heißt Verwurzelung, unseren ganz eigenen Platz im Leben zu entdecken und ihn freudvoll und glücklich auszufüllen. Zum einen macht uns diese Beziehung zu zufriedenen Menschen, die ihren Selbstwert weder durch Leistung noch durch Konsum bestätigen müssen, zum anderen verlieben wir uns neu in die Welt, was dazu führt, dass wir uns für sie einsetzen, sie uns wichtig ist und wir sie schützen.
Vielen Dank für das Interview!
Zum Weiterlesen:
Dirk Grosser und Jenny Appel: Kraftort Natur. GU Verlag 2018