Die Welt wird von viel zu vielen groben Menschen dominiert. Damit sich ein Grobian in ein feines Wesen verwandelt, ist eine sehr lange metamorphosierende Reise notwendig. Denn das Feine (von lat. finis = Ende) offenbart sich immer erst dann, wenn wir auf der Heldenreise der Selbst-Erforschung (Atma-Vichara) das innere Grenzland betreten. Im Grenzland endet das dem Verstande bekannte und von den Schleiern der Unwissenheit verhüllte Terrain. Unbekanntes, Undenkbares tut sich auf. Die Schwelle zum geheimnisvollen „Niemandsland“ ist plötzlich in Reichweite, und das Feine verströmt seinen einzigartigen, anandischen Duft. Hier am Ende der Welt endet die Welt des Endlichen, und das Wesen ist auf natürliche Weise im Zustand des „EN-DEI“ – in Gott, Atman, Brahman, oder wie man auch dazu sagen mag. Das Atman-Brahman-Prinzip ist unendlich, unvergänglich und unsterblich, da es nie geboren wurde. Es ist jenseits der Attribute von grob und fein. Es ist absolut frei und als „Kosmischer Freier“ alles durchliebend (Priya).
Doch um ein Visum, eine Aufenthaltserlaubnis für das feinsinnige Grenzland – und jenseits davon – zu erhalten, muss unsere in eine menschliche Form gegossene und in einen Traumschlaf gefallene Seele zunächst einen ganz bestimmten Werdegang durchlaufen, der aus einzelnen, initiatischen Schritten besteht. Dies ist der Weg der Seele (Jiva) durch das Menschsein: von der Uniform über die Form zum Formlosen.
Der Zustand der Uniform ist der gröbste aller Zustände. Hier ist die Seele noch als „Gruppen-Seele“ von den groben, kollektiven Mustern des Unbewussten konditioniert. Als „Mitläufer“ erfüllt sie die vorgegebenen Formen des kollektiven Marsches und lebt dadurch in einem permanenten Zustand des Erfüllungsdrucks. Eine fremde Form zu erfüllen, bedeutet für den Jiva Stress und erschwert oder verhindert gar das lebendige Schöpfen aus der Quelle. Um diesen Zustand zu transzendieren, haben die klassischen Einweihungswege im ersten Schritt eine langjährige, psycho-physische Reinigung (Shuddhi) vorangestellt. Diese Reinigung stabilisiert, zentriert und stärkt den „Eingeweihten“, und befähigt ihn, im zweiten Schritt, zur „Eingeweide-Schau“, zum Abstieg in die Unterwelt, zum Eintauchen in das Unterbewusstsein. Hier kommt es zur Konfrontation mit den Schatten, all dem Verdrängten, Unverdauten und Liegengebliebenen. In der Regel warten dort zahlreiche „Kammern des Schreckens“ darauf, geöffnet zu werden. Alles, was entsprechend unserer Wesensnatur noch nicht zur Anwesenheit gebracht wurde, also nicht im Lichte des „Bewusst-Seins“ verwirklicht und damit erlöst werden durfte, „ver-west“ dort vor sich hin.
Die bei diesem Verwesungsprozess abgesonderten Giftstoffe sind es, die unser Leben schwer machen, die Konflikte und Belastungen erzeugen, und sich als unerlöste karmische Brocken, als „Gifts“, als herausfordernde „Geschenke“, in unsere Begegnungs- und Erlebniswelt spiegelnd hineinprojizieren. Die Spiegelwelt der Schöpfung (Maya), die Welt der Objekte, hat einen einzigen Sinn: die Schleier der Täuschung zu durchschauen, und sich im Spiegel selbst zu erkennen. Deshalb sind unsere Konflikte in der Welt und all das, was wir noch als feindlich bekämpfen oder ablehnen müssen, nichts als Projektionen unserer unerlösten „Schattenpsyche“, die aus den verwesenden Kräften der Katakomben des Karma gespeist werden.
Solange wir noch etwas im Außen bekämpfen müssen, ob in Beziehungen, Weltanschauungen, Gesellschaft, Politik, Religion etc., sind wir noch nicht wirklich frei. Im Gegenteil: Wir füttern durch den Kampf die Schatten in uns, ketten uns an sie und verhelfen ihnen zur Größe, bis die darin enthaltenen Kräfte schleichend, unmerklich, und schließlich vollständig unser Leben übernehmen. Deshalb wird man früher oder später unweigerlich zu dem, was man in seinem Leben bekämpft. Sinngemäß dazu heißt es in der Überlieferung der Maitri-Upanishad: „Man wird das, was man denkt. Dies ist das ewige Geheimnis.“
Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen, in denen Menschen nach einiger Zeit genau zu dem wurden, was sie jahrelang bekämpft hatten. Dieser „Schattenkrieg“ dauert so lange an, bis wir beim mutigen Abstieg in die „Unterwelt“ beginnen, Licht ins Dunkel zu bringen, und unseren karmischen Schatten dabei helfen, den Weg zurück ins Licht zu finden. Bei diesem Prozess beginnt die Seele, sich aus den Verhaftungen des Kollektiven zu lösen, erstarrte Formen und Krusten abzuschütteln, wie ein Schmetterling seinen Raupenkokon, und sich ihrer Gottnatur bewusst zu werden. Der Mensch entwickelt ein seelisches Gespür für sich und sein wahres, inneres Wesen. Dieses kann nun mehr und mehr in die lebendige Form fließen, die ihm entspricht. Die Seele erwacht aus dem Schlummerland und kann die kollektiven wie individuellen Schleier der Unwissenheit (Avidya) hinter sich lassen. Ein solcher Mensch empfindet, denkt und handelt aus der schöpferischen Quelle heraus und bereichert die Welt durch eine enorme transformierende Kraft und Inspiration, die wiederum für den Komfortzonenmenschen unbequem erscheinen mag. Der Jiva (Seele) ist wieder in Verbindung mit dem Jivatman (All-Seele). Nun kann sich die Herzensliebe frei entwickeln, die mit den stereotypen, dualistischen Kräften von Anziehung und Ablehnung fortan fremdelt.
Allein die Verwirklichung der Identität mit der Individual-Seele führt zur Selbstermächtigung des Menschen, und bildet gleichsam die Basis für den letzten Schritt, den des Aufstiegs zum höchsten Gipfel – der samadhischen Verschmelzung mit der All-Seele, der nahtlosen Identität mit dem formlosen Atman-Brahman-Prinzip. Nun ist das weise Wesen von seiner langen Reise, von seiner odysseischen Irrfahrt, heimgekehrt und ruht in seiner wahren Identität. Das Fehde-Schwert von Anziehung und Ablehnung hat sich in eine leichte Feder verwandelt. Diese ist im Herzen feiner als fein. Ein solches Herz ist zum „Kosmischen Freier“, zum Jivanmukta geworden, dem es aufgrund seiner Liebe und Stärke gelingt, das dem heiligen Dharma feindlich Gesinnte unermüdlich wach zu küssen.