Teil 5: Die kaum beachtete Meditationslehre der Bhagavadgita.
Die bekannten Statuen meditierender Buddhas zeigen Meditation als Rückzug nach innen. Wenn wir in die Bhagavadgita schauen, so kann Meditieren viel mehr bedeuten. Die Bhagavadgita weist nicht nur auf die Wendung nach innen hin, um dort Erfahrungen von wunschlosem Glück als Ziel zu haben. Wichtig ist es, auf dem Weg der Meditation weiterzugehen. Es gilt das Meditationskissen wieder zu verlassen, den Schritt zurück ins Leben zu wagen, um dort das richtige Wünschen im Auf und Ab des Alltags zu üben.
Rückzug
Schritt für Schritt ist der Weg der Meditation zu gehen. Dabei beschreibt die Bhagavadgita mit dem ersten Schritt durchaus die Notwendigkeit des Rückzugs aus der Alltagswelt:
Der Yogi sollte
beständig auf das Selbst
ausgerichtet sein,
in Einsamkeit, allein,
Geist und Selbst gezügelt,
frei von Wünschen
und Besitz.
(Bhagavadgita VI.10)
Wir ziehen uns zunächst in die „Einsamkeit“ eines ruhigen Ortes zurück. In alten Zeiten in Indien waren diese ruhigen Orte der Einsamkeit in einer Lichtung im Wald oder einer Höhle im Himalaya zu finden. Heute wird der Rückzug eher im Meditationszentrum oder einem für die Meditation hergerichteten Ort in der eigenen Wohnung geübt. Letztendlich geht es gleich zu Beginn aber schon um mehr. Schon zu Beginn ist es wichtig, eine innere, geistige Umwendung zu kultivieren. Es gilt sich von den Wünschen zu lösen – von allem, wovon wir glauben, es noch haben zu müssen. Und auch der Besitz ist ein Thema. Gerade im Rückzug aus dem Alltagsgetriebe wird es leichter, Abstand von all diesen Getriebenheiten zu erlangen, die unseren Geist auf Trab halten. Nun sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, Sinne und Geist nach innen zu ziehen, wie eine Schildkröte ihre Glieder.
Meditationssitz
Wenn man sich auf das Meditieren geistig ausgerichtet und auch den geeigneten Ort gefunden hat, gilt es nun den Platz für die Meditation zu bereiten:
An einem
sauberen Ort soll er
einen festen Sitz
hinstellen, nicht zu hoch
und nicht zu niedrig,
Stoff, ein Fell und Gras darauf.(Bhagavadgita VI.11)
In Bezug auf den Meditationssitz haben sich die Möglichkeiten des modernen Menschen enorm verbessert. Es ist nicht mehr notwendig, mit Stoff, Fell und Gras zu arbeiten. Meditationskissen oder Meditationsbänkchen in allen Größen und Formen erleichtern das gute Sitzen.
Übung der Konzentration
Das gute Sitzen bildet nun wieder die Voraussetzung für den nächsten Schritt, die Konzentration auf einen Meditationsgegenstand.
Dort das Denken auf
einen Punkt gerichtet, Geist,
Sinne und Tun gezügelt, sich
niederlassend auf dem Sitz, übe er
Yoga, zur Läuterung des Selbst.
Gleichmäßig Körper, Kopf und Hals
unbeweglich haltend, fest,
schauend auf die Nasenspitze,
blicke er nicht umher.
(Bhagavadgita VI.12–13)
Wenn man sich den Geist wie viele auf einem Baum herumspringende Affen vorstellen kann, gilt es in der Übung nicht mehr nach hier und dann nach dort zu schauen. Der Blick, und damit der Geist, wird auf nur einen Punkt, in unserem Bild auf nur einen Affen konzentriert. Das aufgewühlte Denken wie auch die Emotionen finden einen Punkt, an dem sie sich sammeln und beruhigen können.
Natürlich wird man sich nicht den wildesten Affen aussuchen, sondern einen, der das Potenzial hat, die Bewegtheit des Geistes zur Ruhe zu bringen. Die Bhagavadgita wählt an dieser Stelle die Konzentration des Blicks auf die Nasenspitze. Mit leicht geöffneten Augen schaut man auf die Nasenspitze und konzentriert damit den Blick und auch das Denken. Wichtig ist hier, den Blick zwar auf die Nasenspitze zu richten, ihn dort jedoch nicht festzuhalten. Wenn Konzentration erreicht ist, sind die Augen zu schließen, um so jede Verkrampfung der Augen, des Blickes, aber auch des Geistes zu vermeiden.
Loslösung in der Hingabe
Wenn sich durch stete Übung das Denken wie auch das Fühlen nicht mehr ablenken lassen, kann neben der Konzentration auch die Loslösung kultiviert werden.
Mit beruhigtem Selbst, frei von Furcht, fest im Gelübde
der Enthaltsamkeit, das Denken
gezügelt, denGeist auf MICH
(Krishna) gerichtet, sitze er,
in mir das Höchste sehend.
(Bhagavadgita VI.14)
Der Geist löst sich jetzt auch vom Meditationsgegenstand, ohne jedoch die Sammlung der Konzentration wieder aufzugeben. Es geschieht eine Hingabe nach innen, die in der Bhagavadgita mit der Hingabe an den jedem Menschen innewohnenden, göttlichen Krishna benannt wird. Andere Stellen sprechen von dem wahren Selbst. Mit dieser inneren Hingabe an das innere Göttliche beginnen sich alle festgefahrenen Muster, all die Vorurteile, geistigen Zwänge und Getriebenheiten zu lösen.
In den Tiefen seines göttlichen Selbst zu ruhen und in dieser Weise wunschlos glücklich zu sein kann als ein wunderbarer Zustand tiefgreifenden Glücks erfahren werden. Die meisten bleiben hier stehen und sehen hier schon das Ziel des Meditationsweges. Es ist die Bhagavadgita, die wie kaum eine andere Schrift aus der langen Tradition des Yoga in revolutionärer Vehemenz fordert, bei den inneren Zuständen wunschlosen Glücks nicht stehen zu bleiben. Das Entscheidende muss noch kommen.
Die Tat, die getan werden muss
Immer wieder berichten Astronauten, denen die Gelegenheit gegeben wurde, unseren Planeten aus der Ferne des Weltalls beobachten zu können, wie sie nach ihrer Rückkehr die Welt in einer grundlegend neuen und bewussteren Weise zu sehen lernten. Ähnlich wie bei den Astronauten geht es auch bei der Meditation um einen Perspektivwechsel. Auch die Meditierenden üben den Blick aus der Ferne auf die Welt, jetzt jedoch nicht aus dem Weltall, sondern aus einer inneren Ferne. Wie Astronauten nicht für immer im Weltraum bleiben, können auch Meditierende nicht für immer in ihrem Innen verharren. Irgendwann wird man das Meditationskissen verlassen müssen und kehrt in den Alltag zurück.
Die Bhagavadgita betont so eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Und doch mutet diese Selbstverständlichkeit revolutionär an. Entscheidend für Meditation ist es, bei der Innenwendung nicht stehenzubleiben und die Bewusstheit der Meditation wieder mitten in das Außen der Welt zu tragen. So wunderbar die Glückserfahrungen in tiefer meditativer Versenkung auch sein mögen, das volle Potenzial menschlichen Lebens ist so noch keinesfalls erreicht. Das, worum es in der Meditation wirklich geht, war in der Bhagavadgita schon ganz zu Beginn des Kapitels zur Meditation grundlegend erklärt:
Wer nicht an der Frucht
der Handlung hängend die Tat tut,
die getan werden muss, der ist ein
Entsager und ist ein Yogi.
(Bhagavadgita VI.1)
Der echte Yogi ist ein „Entsager“. Er entsagt jedoch nicht der Welt, wie viele glauben. Er entsagt seiner inneren Gebundenheit an die „Früchte des Handelns“. Die Früchte des Handelns motivieren uns und bestimmen so unser Handeln.
Aber erstreben wir auch die richtigen Früchte, die uns und der Welt wirklich guttun? Nur weil wir Erfolg haben, ist unser Handeln nicht automatisch schon gut. Und nur weil uns der Erfolg versagt bleibt, war das Handeln nicht gleichzeitig auch schlecht. Es ist durchaus möglich, keinen Erfolg zu haben und trotzdem gut und richtig zu handeln.
In der Meditation geht es nicht darum, wunschlos glücklich zu sein. Wir üben das richtige Wünschen in der Achtsamkeit für das im Hier und Jetzt Notwendige. Es geht um die Bewusstheit für die „Tat, die getan werden muss“, unabhängig davon, ob wir dafür bezahlt werden oder Lob und Anerkennung ernten. Man zieht sich auf der Suche nach innerem Glück auf das Meditationskissen zurück. Manche kommen als Revolutionäre wieder zurück. Auch der letzte der in dieser Reihe dargestellten Yoga-Wege der Bhagavadgita zeigt sich als Weg zur Förderung des Bewusstseins für das, was die Bhagavadgita als Svadharma bezeichnet, unsere innere Bestimmung in diesem für jeden Menschen einzigartigen Leben.

Zum Weiterlesen: Eckard Wolz-Gottwald: Die Bhagavadgita im Alltag leben. Die vier großen Übungswege des Yoga, Verlag Via Nova 2022