Wandlungsphasen im weiblichen Leben: Die junge Frau, die Mutter und die weise, alte Frau.
„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.”
(aus dem Gedicht „Stufen” von Hermann Hesse, in: Das Lied des Lebens, Suhrkamp Verlag)
„Die Geburt der Venus“ von Sandro Botticelli zeigt im Mittelpunkt eine schöne junge Frau, Venus, die römische Göttin der Schönheit und der Liebe. Auf diesem Bild symbolisiert sie – verstärkt durch das Symbol der Muschel – die erblühende Weiblichkeit. Ähnliche Darstellungen, die auf die Lebensphase der jungen Frau hinweisen, finden wir in allen Kulturen. Meist zeigen diese Bilder schöne jugendliche Frauen, die unberührt wirken und verträumt ihren Blick nach innen zu richten scheinen. In der indischen Mythologie entspricht die junge Radha, die Gespielin des Gottes Krshna, dieser Phase der Weiblichkeit.
Betrachten wir das Bild der indischen Göttin Lakshmi, so finden wir auf den ersten Blick Ähnlichkeiten, aber bei genauer Betrachtung sehen wir, dass diese Göttin der Schönheit und des Glückes bereits eine weitere Phase im weiblichen Leben darstellt. Ihr Körper ist bekleidet, und sie öffnet vier Arme nach außen als Hinweis auf ihre gebende und beschützende Natur, die sich den Menschen zuwendet. Man könnte sagen: so wie eine Mutter, die mehr als zwei Hände und Arme braucht, um sich all ihren Kindern zuwenden zu können. Lakshmi als Gattin des Gottes Vishnu und Symbol der mütterlichen Weiblichkeit und Schönheit steht mit der Welt in einer schöpferischen Verbindung. Eine ähnliche Symbolfigur ist die hinduistische Göttin Tara, die im tantrischen Buddhismus Tibets als höchste Mutter verehrt wird. Nach der Überlieferung legte sie ein Gelübde ab, immer nur im weiblichen Körper wiedergeboren zu werden und in diesem Körper die Erleuchtung zu erlangen.
Die dritte Lebensphase der Frau jenseits von Fruchtbarkeit und Mutterschaft finden wir ebenfalls in mythologischen Darstellungen dieser Welt. Sie wird zum Beispiel durch die indische Göttin Durga symbolisiert, die im Gegensatz zu anderen Göttinnen wie Lakshmi oder Parvati keinem männlichen Gott als Partnerin zugeordnet ist. Ihr Name, übersetzt „die schwer Zugängliche“, zeigt bereits, dass es sich um eine unabhängige Frauengestalt handelt, die bekannt ist für ihre ungeheuren geistigen und kosmischen Kräfte, mit denen sie die Gefahren des Lebens bewältigt.
Die Archetypenlehre nach C.G. Jung
Bei all diesen Darstellungen handelt es sich um archetypische Bilder. Sie stellen menschliche Urerfahrungen dar (Geburt, Mütterlichkeit, Weisheit des Alters), die für Menschen aller Zeiten und Kulturen prägend waren und sind. Jede Frau ist auch heute noch diesem Wandel von der jungen zur reifen und zur alten Frau unterworfen, der in diesen Bildern dargestellt wird. Archetypische Gestalten begegnen uns in Bildern, Märchen, Mythen und in den eigenen Träumen. Der Schweizer Seelenarzt C.G. Jung hat versucht, diese archetypischen Bilder psychologisch zu ergründen. Die Mythen und Märchen sah er dabei in erster Linie als „psychische Manifestationen, die das Wesen der Seele darstellen“. (Grundwerk C.G. Jung Band 2, Seite 79). C.G. Jung vergleicht Archetypen (Urbilder) mit dem Achsengitter eines Kristalls, das immer gleich bleibt und doch vielfältige Formen hervorbringt. So bleibt der Archetyp „Mutter“ immer gleich, die jeweiligen Bilder ändern sich je nach Kultur und Zeit. Jeder Archetyp hat einen Licht- und einen Schattenaspekt, eine helle und eine dunkle Seite. Letztere sehen wir z.B. ganz deutlich in Bildern der schwarzen Göttin Kali, der verschlingenden Seite des Weiblichen. In der heutigen Zeit würde man sagen: die Schattenseite des Mütterlichen ist das Festhalten an dieser Rolle und damit das Festhalten der bereits erwachsenen Kinder, die somit daran gehindert werden, den eigenen Weg zu gehen.
Jede Frau trägt archetypisch die Qualität aller Lebensphasen in sich, auch wenn jeweils eine im Vordergrund steht. Das bedeutet zum Beispiel, dass jede Frau, wenngleich vielleicht nicht die persönliche Erfahrung der Mutterschaft, so doch eine potenzielle archetypische Erfahrung in sich trägt, genauso wie die Erfahrung der Alten Weisen zum Beispiel, dem Alter mit Gelassenheit entgegenzusehen und sich dabei trotzdem bewusst zu sein, dass sie auch immer die Jugend und Schönheit der Venus in sich tragen wird. Und gerade darin liegt die Bedeutung archetypischer Bilder auch für die heutige Frau.
Archetypische Bilder, wie sie in Mythen, Märchen, Träumen, Visionen und Erfahrungen mit Menschen, die den jeweiligen Archetyp für uns symbolisieren, auftauchen,
- können neue Erkenntnisse bringen und Lösungswege aufzeigen (z.B. indem wir mit den archetypischen Figuren in Dialog treten)
- stärken den Mut, diese Erkenntnisse umzusetzen
- helfen uns, fehlende Anteile stellvertretend zu ersetzen und damit ganz oder zumindest ein Stück weit zu integrieren
- machen es leichter, die Wandlungsphasen des Lebens bis hin zur Akzeptanz der Sterblichkeit besser zu bewältigen, weil wir spüren, dass wir in ein größeres Ganzes eingebunden sind (mit einer göttlichen Kraft verbunden, in der großen Mutter Natur geborgen sind etc.).
Jede Frau trägt archetypisch die Qualität aller Lebensphasen in sich, auch wenn jeweils eine im Vordergrund steht.
Die Begegnung mit Archetypen – zwei Beispiele
Dazu möchte ich Ihnen zwei von vielen Beispielen aus meiner therapeutischen Praxis erzählen, die mir selbst die herausragende Bedeutung archetypischer Bilder bewusst gemacht haben. Das gilt vor allem dann, wenn dieser Archetyp – wie C.G. Jung schreibt – sich „konstelliert“, d.h. in Erscheinung tritt. Das scheint immer dann zu geschehen, wenn es im Leben besonders wichtig ist. Das kann in einer Therapie genauso geschehen wie im alltäglichen Leben, in dem wir z.B. ein Bild sehen, ein Buch in die Hand bekommen oder einem Menschen begegnen, der diesen Archetyp symbolisiert, z.B. einer alten weisen Lehrerin. So habe ich das bei einer jungen Frau erlebt, die als Kind mehrere Jahre lang von ihrem Stiefvater missbraucht worden war. Obwohl sie sich damit seit mehreren Jahren auseinandergesetzt hatte, äußerlich betrachtet gut zurechtkam und sehr erfolgreich in ihrem Beruf war, litt sie immer noch unter depressiven Phasen und spürte oft eine tiefe – bodenlose, wie sie sagte – Traurigkeit in sich.
Während einer „Musikreise“, bei der sie im tief entspannten Zustand mehrere aufeinanderfolgende Musikstücke hörte, hatte sie eine berührende Begegnung mit Maria, der Gottesmutter, diesem mütterlichen Archetypen der christlichen Kultur. Maria nahm sie wie ein Kind in den Arm, umhüllte sie mit ihrem blauen Mantel und wiegte sie tröstend. Wichtig ist dabei zu wissen, dass die Klientin keinesfalls ein besonderes Verhältnis zum Katholizismus und seinen Symbolen und Ritualen hat, d.h. dieses Bild trat relativ unerwartet auf. In den darauf folgenden Wochen kam es zu mehreren Begegnungen mit diesem Bild der großen Mutter. Daraufhin setzte ein seelischer Heilungsprozess ein, der bis heute anhält und in ihrem Leben deutlich spürbar ist. Die Kraft, die von dieser Begegnung ausging, hatte ihr geholfen, die Trauer über den so schmerzlichen vermissten Schutz durch die eigene Mutter zu mildern und nach und nach zu überwinden.
C.G. Jung spricht im Band 2 seines Grundwerks davon, dass archetypische Bilder nicht einfach rational integriert werden können, sondern dass man mit ihnen in eine Art Dialog treten muss, um sie zu verstehen. Diese Erfahrung konnte ich mit einer anderen Klientin machen. Sie begegnete in einer Musikreise der dunklen Seite des Mutter-Archetyps, der Göttin Kali. Diese tauchte in ihrer erschreckenden dunklen Gestalt auf, mit ihren Attributen, wie der Kette aus Totenschädeln um ihren Hals. Meine Klientin, die sich in einer tiefen Entspannung befand, erschrak bereits bei den ersten Tönen der Musik ganz heftig. Sie setzte sich ruckartig auf und öffnete die Augen. Sie beschrieb mir das Bild, das sie aus Darstellungen kannte und das jetzt im Bruchteil einer Sekunde aufgetaucht war und sie in Angst versetzt hatte. Kali steht in der Mythologie für Tod und Verwandlung, für die Zerstörung dessen, was dem Leben im Weg steht. Ich fragte die Klientin, ob sie sich mit Unterstützung der Musik und meiner Begleitung auf diese Begegnung einlassen könnte. Sie war einverstanden, schloss die Augen und folgte weiter der Musik. Zwar erschien das Bild nicht mehr in dieser Deutlichkeit, aber dafür erhielt sie jetzt eine klare Botschaft von Kali, in der sie ihr mitteilte, was in ihrem Leben „zerstört“ werden muss, um ihr Leben zu retten. Sie verstand die Botschaft: Nur wenn sie sich aus der Beziehung mit einem schwer alkoholabhängigen und auch gewaltbereiten Partner löst, kann sie ihr Leben retten. Der Archetyp der Göttin war ihr in Form dieses Bildes zu Hilfe gekommen, hatte sie bestärkt in dem, was sie längst wusste, aber umzusetzen zögerte. So konnte sie sich nach und nach aus den Verstrickungen ihres Lebens befreien und sich ihres eigenen Wegs bewusst werden.
Weibliche Wandlungsphasen in ihrer spirituellen Bedeutung
Die weiblichen Wandlungsphasen kann man unter vielen Aspekten betrachten, so zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt der spirituellen Entwicklung. Am Beispiel der Chakras, der „Organe“ des feinstofflichen Körpers, lässt sich dabei ein Weg aufzeigen, der sozusagen von der Erde zum Himmel führt. Chakras sind die Verbindungen des Körpers mit der nicht- materiellen Welt. Durch sie wird Prana, die universelle Lebensenergie, nicht nur mit dem Atem, sondern über den ganzen Körper aufgenommen. Sie sind damit Verbindungsglieder zwischen dem materiellen Körper und der geistigen Substanz, die unser Leben erhält.
Jedes Chakra hat auch einen so genannten „Selbstaspekt“, d.h. es zeigt auf, was notwendig ist, um das innere Selbst im Laufe eines Lebens immer mehr zur Entfaltung zu bringen. Spiritualität zeigt sich – am Beispiel der Chakras – in verschiedenen Formen: angefangen mit der engen Verbindung mit dem eigenen Körper, mit der eigenen und der großen Natur. Sie zeigt sich in der Begegnung mit der Welt, in der Liebe, in der eigenen Kreativität, im Rückzug von der Außenwelt nach innen und in einer geistigen Form, die nicht mehr mit Worten zu beschreiben, sondern nur mehr zu erfahren ist, einer Qualität, die mit dem obersten Chakra verbunden ist. In den Wandlungsphasen der Frau von der Jugend bis zum Alter zeigt sich die Spiritualität mit einem jeweils anderen Schwerpunkt. Dabei sind die anderen Entwicklungsstufen immer bereits im Keim vorhanden, oder in der gelebten Form als bleibende Erinnerung. Die junge Frau trägt bereits die ältere und alte Frau in sich, die sie einmal sein wird. Die alte Frau lebt mit einem inneren Wissen der gelebten Jugend und Weiblichkeit, die jetzt vielleicht in eine andere Form von Frausein übergegangen ist.
Die junge Frau
Ihre Initiation ist der Beginn des weiblichen Monatszyklus und die körperliche Veränderung, die damit einhergeht. Die Spiritualität der jungen Frau zeigt sich vor allem auf körperlicher Ebene. Sie entdeckt ihre Weiblichkeit und die Freude an Körperlichkeit und Sexualität. In dieser Lebensphase braucht sie Schutz und Geborgenheit, um ihre eigene Identität entwickeln zu können. In der Mythologie sind es meist mütterliche Gestalten, die diese Rolle übernehmen. Fehlt dieser Schutz oder ist ein langsames Entwickeln der eigenen Persönlichkeit nicht möglich, tritt häufig die Schattenseite dieses Archetyps in Erscheinung: die früh verführte oder verführende junge Frau, die ihre körperlichen Reize nutzt, um Anerkennung und Liebe zu bekommen, bevor sie diese Qualitäten in sich selbst entwickelt, d.h. bevor sie ein Bewusstsein ihrer selbst entwickelt hat. Die ersten drei Chakras zeigen, welche Entwicklungsstufen diese Lebensphase umfasst und welche Selbstaspekte zu entwickeln sind.
Das Muladhara-Chakra oder Wurzelchakra an der Basis der Wirbelsäule steht für die Verbindung mit dem Element Erde. Die Kraft des Wurzelchakras gibt Standfestigkeit und ein basishaftes Empfinden des eigenen Platzes in dieser Welt. Zu entwickeln ist die „Selbstwahrnehmung“, die zunächst über die Sinne erfolgt, mit der das Kind die Welt entdeckt. Es geht um Wahrnehmung des eigenen Körpers, der körperlichen Möglichkeiten und Grenzen sowie um die Erkenntnis der Grenzen anderer.
Das Svadhishthana-Chakra oder Sexualchakra auf Höhe der Lendenwirbelsäule steht für die Verbindung mit dem Element Wasser. Hier geht es um den energetischen Austausch mit der Umwelt, um Anziehung und Abstoßung, um Entwicklung der Sexualität, die Verbindung mit dem Du auf körperlicher Ebene. „Selbstakzeptanz“ ist hier die Aufgabe. Es geht um die Akzeptanz aller Persönlichkeitsanteile, der lichtvollen und der schattenhaften, bei sich selbst und anderen, um Anziehung und Abstoßung, um Ja und Nein auf energetischer Ebene.
Das Manipura-Chakra oder Nabelchakra auf Höhe des Nabels steht für die Verbindung mit dem Element Feuer. Hier geht es um die Entwicklung der eigenen Identität, um intensive Gefühlserfahrungen, negativer und positiver Art. „Selbstwertschätzung“ ist die Lernaufgabe in diesem Bereich; die Wertschätzung für sich selbst, die unabhängig ist vom Urteil anderer, sowie aber auch um die Wertschätzung anderer Menschen.
Die reife Frau
Die Mutter ist ein häufig auftauchendes archetypisches Bild dieser Lebensphase, wobei sie sich entweder als Mutter eigener Kinder oder als Mutter für bedürftige Menschen (Beispiel Mutter Theresa, Amma etc.) darstellen kann. Der Archetyp der reifen Frau ist aber nicht nur durch Muttergöttinnen symbolisiert, sondern auch durch selbstbewusste Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen. Die Spiritualität der reifen Frau zeigt sich vor allem auf seelischer Ebene, in Form von Liebe und Fürsorge für andere. Sie opfert einen Teil ihrer eigenen Lebenskraft, ihrer eigenen Entfaltungsmöglichkeit für ihre Kinder oder für Menschen, die ihr anvertraut sind. Die Frau in dieser Lebensphase ist sich ihres eigenen Körpers bereits bewusst, sie kennt seinen Rhythmus und seine Bedürfnisse. Ihre Aufgabe ist es, sich nicht nur den Bedürfnissen anderer Menschen zu widmen, sondern ihre eigenen zu erfüllen. Heute fallen in diese Phase des Lebens auch berufliche Entwicklung und Karriere, was oft nicht leicht mit der mütterlichen Rolle zu verbinden ist. Schattenseite dieses Archetyps sind deshalb zum einen die fehlende Mütterlichkeit zugunsten von Härte und Durchsetzungsvermögen, um der Konkurrenz standzuhalten. Zum anderen ist der Schattenanteil die Unfähigkeit, gut für sich selbst zu sorgen, und damit die Tendenz, von anderen zu viel zu erwarten, sie an sich zu binden und mit Schuldgefühlen zu manipulieren.
Auf der Chakra-Ebene sind wir jetzt beim vierten und fünften Chakra angekommen. Das Anahata-Chakra oder Herzchakra auf Höhe des Herzens steht für die Verbindung mit dem Element Luft. Es geht um Integration der unteren und oberen Chakras, um Empathie, um Liebe, die nicht abhängig ist von „Gegenliebe“, um die Verbindung mit dem jedem Du auf seelischer Ebene, um die Akzeptanz der eigenen seelischen Grenzen und der Grenzen anderer. Selbstaspekt ist die „Selbstliebe“ als Basis für die Liebe zu anderen. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist ein Schlüsselsatz für dieses Chakra.
Das Vishuddha-Chakra oder Halschakra auf Höhe des Kehlkopfs steht für die Verbindung mit dem Element Äther. Hier geht es um Kommunikation; die eigene Stimme soll zu Gehör gebracht und der eigene Standpunkt mitgeteilt werden. Selbstaspekt ist der „Selbstausdruck“. Es geht darum, die eigene Wahrheit auszudrücken und die Wahrheit anderer zu hören und zu respektieren.
Die ,Alte Weise’ kennt das Leben in allen Facetten und weiß damit umzugehen.
Gerade dieser Archetyp scheint mir heute besonders wichtig.
Die alte Frau und Weise
Der älteren Frau in ihrer ganz eigenen Qualität begegnen wir in Mythen und Märchen in vielfältiger Form. In unserer Kultur tritt sie uns z.B. in Form der Mutter Anna entgegen. „Anna Selbdritt“, wie sie genannt wird, ist Begleiterin und Lehrerin der jugendlichen Maria und des Jesuskinds. Symbolisch wird sie deshalb zusätzlich mit einem Buch dargestellt. Im Märchen sind es oft die Großmütter, die diesen Archetyp der weisen Frau verkörpern. Die „Alte Weise“ hat keine Angst mehr vor dem Leben, wie zum Beispiel das Märchen vom „Teufel mit den drei goldenen Haaren“ erzählt. Die Großmutter des Teufels hat keine Angst vor ihm und versteckt sogar den Helden der Geschichte unter der Bank – unter ihren Röcken – vor dem gefräßigen Teufel. Die „Alte Weise“ kennt das Leben in allen Facetten und weiß damit umzugehen. Gerade dieser Archetyp scheint mir heute besonders wichtig. Angesichts von Anti-Aging und „Forever Young“ ist es nicht leicht, die positive Seite des Älterwerdens zu sehen: den Zuwachs an Gelassenheit, Humor und Weisheit, und das auch angesichts eines Schwindens der körperlichen Kräfte.
Die Spiritualität der alten Frau zeigt sich vor allem auf geistiger Ebene. Die körperlichen Merkmale der jungen Frau treten in den Hintergrund. Sie greift nicht mehr so aktiv ins Leben ein wie in ihrer mittleren Lebensphase. Meist sind die Kinder versorgt und die Lebensumstände soweit gesichert. Sie lässt sich nicht mehr so sehr von Außenreizen in den Bann ziehen und kann sich mehr der inneren, der geistigen Welt zuwenden, um daraus zu schöpfen. Im Märchen ist der Schattenaspekt dieses Archetyps die verbitterte Alte, die alles junge Leben misstrauisch und voller Neid betrachtet, die nicht loslassen und Abschied nehmen kann. Wie man dieser Gefahr vorbeugen kann, zeigen die Aufgaben, die mit dem sechsten und siebten Chakra verbunden sind.
Das Ajna-Chakra in der Mitte der Stirn, auch Stirnchakra oder „Drittes Auge“, steht nicht mehr in Verbindung mit einem Element. Hier geht es um Intuition, um Sehen und Hören mit den inneren Sinnen. Selbstaspekt ist die „Selbsterkenntnis“, die aus Einsicht der Zusammenhänge des Lebens erfolgt. Auf dieser Ebene geht es nicht mehr um Schuldzuschreibung und um die Frage, „warum“ etwas geschehen ist, sondern um die Erkenntnis, „wozu“ es gedient hat. Kontemplation, die innere Betrachtung, gehört in diesen Bereich.
Das Sahasrara-Chakra oder Scheitelchakra auf dem Scheitelpunkt ist ebenfalls keinem Element mehr zugeordnet. Erleuchtung, Verbindung mit dem All-Einen und Gotteserkenntnis sind Begriffe, die mit diesem Energiezentrum verbunden werden. Wie das Wurzelchakra den Menschen mit der Energie der Erde und der „Verkörperung“ verbindet, stellt das Scheitelchakra die Verbindung zum Himmel her und weist bereits auf die „Entkörperung“ hin. Dieser Bereich kann nicht mehr von unserem Intellekt erfasst, sondern kann nur erfahren werden.
Es lohnt sich also, sich auf die Suche nach archetypischen Bildern zu machen und ihre Kräfte, die uns aus der langen Kette menschlicher Erfahrungen zur Verfügung stehen, für das eigene Leben zu nutzen.
„Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!”
(aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse, Das Lied des Lebens, Suhrkamp Verlag)